Marguerite Yourcenar
Anna, soror
Klassiker. Manholt, 118 Seiten. 18.00 EUR . ISBN: 3-924903-05-0
Ein kleines Meisterwerk
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Es ist eine lange, innige Beziehung zwischen einem Bruder und seiner Schwester, die auf einmal explodiert und die Schwelle zum Verbotenen überschreitet. Marguerite Yourcenar, die große französische Autorin von historischen Romanen wie „Ich zähmte die Wölfin“, „Die schwarze Flamme“ und „Der Fangschuss“, berichtet in dieser mehrmals überarbeiteten Erzählung von der schicksalhaften Liebe zwischen Anna und ihrem Bruder Miguel.
Ende des 16. Jahrhunderts ist Neapel spanischer Besitz, sehr zum Unwillen der Bevölkerung, die zudem unter den Auswirkungen der Gegenreformation leidet. Anna und Miguel sind die Kinder des spanischen Festungskommandanten und seiner zweiten Ehefrau Valentina. Als die Mutter plötzlich stirbt, rücken die Kinder noch näher zusammen. Doch aus jugendlicher Sympathie entsteht heißes Begehren, als Miguel im Alten Testament die Stelle findet, in der Amnon seine Schwester vergewaltigt. Als kurz darauf auch Anna in der Bibel diese eingemerkte Seite entdeckt, strebt der Konflikt seinem Höhepunkt entgegen.
In einer Nacht hört Miguel leise Geräusche an seiner verriegelten Tür. Es kann nur Anna sein. Er schleicht an die Tür und lehnt sich an den Türflügel. „Er fürchtete, sie könnte die Flucht ergreifen, und mehr noch fürchtete er, sie würde bleiben.“ Durch den Türflügel hindurch spüren die beiden das gegenseitige Begehren und die gleichzeitige Furcht vor dem Verbotenen.
Nach dem Sündenfall heuert Miguel auf einer Galeere an, die gegen Piraten in den Kampf zieht. Er sucht den Tod und findet ihn auch. Noch Jahre später – Anna ist mit ihrem Vater nach Flandern gezogen und ist eine arrangierte Ehe eingegangen – zehrt sie von den Erinnerungen an jene wenigen Tage des Glücks.
Vage Andeutungen in den Gesprächen, scheue Blicke und beiläufige Berührungen – Yourcenar konzentriert sich auf die kleinen Details, die dem Ausbruch der großen Gefühle vorangehen. Gerade diese Diskrepanz zwischen kargem, nüchternem Erzählton und dem Aufwallen der Leidenschaften macht den besonderen Reiz der Erzählung aus. Ein Meisterwerk.
Dietmar Adam
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