Dieses Buch Freunden weiterempfehlen.
Dieses Buch kaufen bei Amazon.de
Buy Robert Charles Wilson: Die Chronolithen at Amazon.com (USA)
Weitere Buchbesprechungen bei Amazon.de.
Wer ist Kuin?
Wissen Sie das? Nein? Nun, keiner weiß, wer Kuin ist. Aber jeder kennt ihn. Seit
dem Tag, an dem der erste "Chronolith" im thailändischen Chumphon erschien. Ein
blauer Obelisk aus einem unbekannten, nicht analysierbaren und anscheinend auch
unzerstörbaren Material mit einer Inschrift, die den Sieg der alliierten
Streitkräfte Kuins über Süd-Thailand und Malaysia preist – am 21. Dezember 2041.
Zwanzig Jahre in der Zukunft. Spätestens aber, nachdem ein wesentlich größeres
Exemplar in Form einer stilisierten menschlichen Gestalt explosionsartig Bangkok
entkernt und zahllose Todesopfer gefordert hat. Und das war erst der Anfang …
Es gibt keinen Zufall
Zufällig – oder doch nicht so zufällig? – zerstört das Auftauchen des
Chronolithen das Leben des Aussteigers Scott Warden. Er ist mit seinem Freund
Hitch Paley, einen kleinen Drogendealer, einer der Ersten vor Ort, die den
gerade aufgetauchten Chronolithen sehen – und wird prompt vom Militär
inhaftiert. Als er wieder freikommt, hat seine verbitterte Frau mit seiner
Tochter Kaitlin Thailand bereits verlassen: Kaitlin ist auf einem Ohr fast
ertaubt infolge einer Bakterieninfektion, und ihr Vater war im Knast nicht zu
erreichen – für Janice Warden der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt
und die bereits kriselnde Beziehung scheitern lässt. Auch Scott kehrt in die USA
zurück. Er führt ein weitgehend geregeltes Leben als Programmierer bei der Firma
Campion-Miller und hat das Besuchsrecht für seine Tochter. Seine Frau hat wieder
geheiratet. Doch das ruhige Leben währt nicht lange.
Immer weitere Kuin-Chronolithen tauchen auf, meistens in Südostasien, aber auch
in Jerusalem und anderen Weltstädten. Und Scott verliert seinen Job. Das FBI hat
seine Firma unter die Lupe genommen - seinetwegen. Das Management bekommt kalte
Füße und trennt sich von Scott. Dieser versteht die Welt nicht mehr, bis ihn
seine frühere Universitätsdozentin Sulamith "Sue" Chopra in ihr Team einlädt:
Sie untersucht das Kuin-Phänomen und sieht in Scott eine Schlüsselfigur.
Scott arbeitete bei Campion-Miller an einer Software, die zwischen echter und
empfundener Zufälligkeit unterscheidet – und den Unterschied auf das
Verbraucherverhalten zu übertragen versucht. Menschen favorisieren gemeinhin,
wenn man sie nach einer zufälligen Zahlenverteilung zwischen 1 und 10 fragt,
Verteilungen, die nicht sequentiell sind und sehr häufig die Zahlen 3 und 7
bevorzugen – aber sie bilden keine echte Zufallssequenz, vielmehr ist es ihre
intuitive Vorstellung dessen, was zufällig ist, die ihre Entscheidung
beeinflusst. Diese Erkenntnisse will man sich unter anderem in Marketing,
Product Placement und Wertpapierhandel zunutze machen. Sue Chopra sieht eine
Gemeinsamkeit zu ihren Fachgebiet: Damals war Scott Teilnehmer ihres Kurses
"Metaphorik und Realitätsmodelle in Literatur und Naturwissenschaft", den damals
niemand so recht verstanden oder ernst genommen hat, da Sulamith jeden bestehen
ließ und gute Noten je nach dem Grad des für ihr bevorzugtes Gesprächsthema,
Calabi-Yau-Geometrien, gezeigten Interesses vergab. Seit dem Auftauchen des
Chronolithen arbeitet sie für die Regierung der USA. Denn sie hat einige
bahnbrechende physikalische Werke veröffentlicht, die Scott ebenso wenig
versteht.
Sie erklärt Scott, dass sie die Chronolithen als eine Art Interface zwischen
Gegenwart und Zukunft, eine negative Tau-Anomalie ansieht. Wie in einer
Feedbackschleife zwischen Mikrofon und Lautsprecher beeinflusst dieser die
Vergangenheit, aber die Vergangenheit auch die Zukunft … die Kausalität der
Dinge wird um Chronolithen auf den Kopf gestellt. Sie befürchtet, dass die
Chronolithen als sichtbarer Beweis und Monumente des Sieges des unbekannten Kuin
in knapp zwanzig Jahren erst dessen Sieg ermöglichen. Sie beeinflussen das
Massenverhalten und die Erwartungshaltung der Menschheit in eine Richtung, die
Kuins Erfolg garantiert – die Menschen erschaffen Kuin in ihren Kopf. Deshalb
wird er auch Erfolg haben. Jeder sieht etwas anderes in Kuin, obwohl seine
Chronolithen keine weiteren Botschaften bieten – aber jeder kennt ihn, hasst,
verehrt oder fürchtet ihn. Niemand kann ihn ignorieren oder ihm gleichgültig
gegenüberstehen. Kuins Chronolithen werden immer größer, kunstvoller und
detaillierter … tauchen scheinbar wahllos in Großstädten oder mitten auf dem
Land auf.
Sue macht Scott außerdem klar, dass seine Nähe zum ersten Chronolithen und die
folgenden Ereignisse kein Zufall waren. Auch ihre gemeinsame Vergangenheit war
kein Zufall. Seine Nähe zur Tau-Anomalie des ersten Chronolithen hat ihn
beeinflusst. So ist es auch kein Zufall, dass sich in einer Zeit weltweiter
Rezession in Asien immer mehr Warlords zu Kuins erklären, die desillusionierte
amerikanische Jugend zu Kuin-Chronolithen oder vermuteten Erscheinungsorten
pilgert und sich verschiedene Lager bilden, die sich brutal bekämpfen. Auch
Kaitlin reißt von zuhause aus, um zu einem Chronolithen zu pilgern … Auf der
Suche nach ihr findet ihr Vater Scott nicht nur seine zukünftige
Lebensgefährtin, deren Sohn ebenfalls zu der Gruppe gehört, mit der sie
abgehauen ist … das Beziehungsgeflecht mit direktem oder indirektem Bezug zu den
Chronolithen wird immer komplexer, und auch Scott glaubt nicht mehr an Zufall.
Schließlich will Sue Chopra die Ankunft eines Chronolithen verhindern – der Welt
zeigen, dass Kuin nicht übermächtig und unvermeidbar ist. Dadurch hofft sie,
"Kuin" in letzter Minute zu verhindern ... denn die zwanzig Jahre sind schon
beinahe abgelaufen.
Menschliche Erwartungen formen die Zukunft
Autor Robert Charles Wilson (* 1953, Kalifornien) wurde bereits für zahlreiche
Romane mit dem renommierten Philip K. Dick Award ("Mysterium", 1994,
nicht übersetzt) sowie dem John W. Campbell Award (für die amerikanische
Ausgabe der "Chronolithen") ausgezeichnet. Deutschen Lesern dürfte sein Roman
"Darwinia" bekannt sein, der den
kanadischen Aurora Award erhielt und Finalist des Hugo Award 1999
war.
Er greift mit "Die Chronolithen" ein hochinteressantes Thema auf: Wie können
menschliche Erwartungen die Zukunft beeinflussen? Denn nichts anderes bewirken
die Chronolithen. Sie richten zwar bei ihrem Erscheinen Verwüstungen an, sind
aber keine Waffe. Eher Monumente des Sieges, die aus der Zukunft in die
Vergangenheit geschickt werden.
Aber zu welchem Zweck? Um diesen Sieg erst zu ermöglichen? Wer ist Kuin
überhaupt, ist er ein Segen für die Menschheit oder ein Fluch? Diktator oder
Heilsbringer? Auf alle Fälle beeinflussen seine Sendboten die Menschheit
nachhaltig. Der Weltwirtschaft geht es schlecht, auch die Weltmacht Amerika ist
im Niedergang begriffen: Der Ogalalla Aquifer, ein unterirdisches
Wasserreservoir der Great Plains, geht zurück, die Landwirtschaft leidet
darunter erheblich. Kriege und Hungersnöte erschüttern weite Teile der Welt, und
auch der amerikanische Lebensstandard sinkt, Arbeitslosigkeit und
Perspektivenlosigkeit machen sich breit.
In dieser Zeit bilden sich erste Jugendbewegungen, die in der Art von Hippies
von einem Chronolithen zum anderen pilgern. Oft werden die blauäugigen Jünger
ausgeraubt, vergewaltigt – oder falls sie tatsächlich an einem prognostizierten
Erscheinungsort eines Chronolithen sind, von der bei seiner Ankunft entstehenden
Kälte- und Druckwelle getötet. Während die Weltregierungen Kuin als potenziellen
Feind ansehen und für einen Krieg gegen Unbekannt rüsten, fügen sich immer mehr
Menschen in das scheinbar Unvermeidliche: Sie arrangieren sich mit Kuin,
akzeptieren, dass es ihn geben wird – und nehmen seine Ankunft hin. Vielleicht
ist er ja gar nicht so übel oder so herrlich, wie man ihnen weismachen will. Man
bezeichnet diese Gruppe als "Copperheads", ähnlich den Nordstaatlern, die
während der Sezessionskriege bereit waren, die Sklaverei als Preis für den
Frieden mit den Südstaaten zu akzeptieren. Es ist bemerkenswert, wie Kuin, ohne
überhaupt in Erscheinung zu treten, eine solch gewaltige Wirkung auslösen kann.
Die ironischerweise gar erst einen "Kuin" schaffen wird, glaubt man Sue Chopra.
Wilson baut neben den von Anfang an dominierenden Fragen, wer Kuin ist und was
er will, geschickt anfangs zuerst belanglos erscheinende, hochgradig
psychologisierte Nebenhandlungen ein. So fragt man sich, warum Scott nun auch
noch über sein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater redet, das aufgrund seiner
schizophrenen Mutter entstand. Dasselbe gilt für seine eigene Ehe und seine
Schuldgefühle gegenüber seiner Tochter. So ist er von der Zusammenarbeit mit Sue
und dem FBI nicht sonderlich begeistert, aber er braucht das Geld, er will
unbedingt die Hälfte der Kosten für ein Cochlear-Implantat tragen, welches
seiner Tochter die Hörkraft auf ihrem tauben Ohr wiederherstellen soll. So hat
ein Ereignis in seiner Vergangenheit eine zukünftige Entscheidung beeinflusst.
Später zeigt Wilson, wie ihm seine schwierige Kindheit in manchen Situationen
Entscheidungen ermöglicht, die andere Gefährten Sues nicht treffen könnten, da
sie, in sie verliebt, zu herzensgut oder im Falle von Hitch Paley zu brutal und
radikal reagieren würden. Hier geht er auch auf den "Schmetterlingseffekt" der
Chronolithen ein: Wenn nach der Chaostheorie der Flügelschlag eines
Schmetterlings im Amazonasbecken einen Orkan in Europa auslösen kann, wie viel
stärker können dann erst Chronolithen das Massenverhalten beeinflussen?
Zwar gelingt es Wilson nicht von Anfang an, Sympathie für Schott oder auch nur
Interesse für sein soziales Umfeld aufzubauen, aber bald schätzt man seine
realistischen und psychologisch glaubwürdig agierenden Charaktere. Das ist auch
notwendig, denn ein großer Reiz der Geschichte besteht darin zu erkennen, wie
vergangene Erfahrungen die Reaktion der betreffenden Person in der Zukunft
beeinflussen. So teilt man auch bald die Befürchtungen der US-Regierung, Kuin
könne sich in der Art eines Mao, Stalin oder Hitler in einer krisengeschüttelten
Zeit des Niedergangs zu einer Art Führer und Heilsfigur aufschwingen – und dank
der weltweiten Unterstützung damit auch Erfolg haben. Denn die Anzeichen sind
unverkennbar, das Ende der Entwicklung, an dem der "Sieg" Kuins steht, scheint
unausweichlich.
So interessant das alles auch ist, auf handfeste Action und Spannungsbögen hat
Wilson ebenfalls nicht verzichtet. Kaitlins Verschwinden sowie das beim
Auftauchen jedes Chronolithen entstehende Chaos, gefährliche Kuin-Milizen und
die nicht minder aufregenden Wendungen in Scotts Privatleben sorgen dafür, dass
der Roman nie akademisch trocken wird. Die Ich-Form-Erzählung Scotts sorgt für
nötige Erklärungen schwieriger Passagen, liefert interessante Denkanstöße und
gibt tiefe Einblicke in sein Seelenleben, sie passt insofern sehr gut zu der
psychologisierenden Schiene des Romans. Wer die Ich-Perspektive normalerweise
nicht schätzt, sollte dem Roman trotzdem eine Chance geben: Scott schwafelt
nicht und beschreibt Szenerien zwar knapp, aber stets treffend.
Das Übersetzer-Duo Hendrik P. und Marianne Linckens hat den Roman ordentlich ins
Deutsche übertragen, wobei sie nicht mit hilfreichen Fußnoten gegeizt haben: Von
thailändischen Reisgerichten bis hin zum amerikanischen Ogalalla Aquifer oder
"Copperhead" werden stets kurze, präzise und hilfreiche Fußnoten geboten. Nicht
zufrieden war ich mit häufig unübersetzten Buchtiteln, Sues Kursbezeichnung,
"Navy Jet" für einen maritimen Jetstream - wobei man hier kurioserweise auch auf
eine erklärende Fußnote verzichtet hat - und Städtenamen; Capetown hätte man mit
dem gebräuchlichen Kapstadt übersetzen können.
Fazit
Science-Fiction muss nicht immer in allzu ferner Zukunft spielen. Die Zukunft
entsteht in den Köpfen der Menschen, und diese Fiktion führt uns Wilson
meisterlich vor. Die Handlung lässt den Leser mitfiebern: Wer ist Kuin, wird er
kommen, kann man ihn aufhalten? Besonders erwähnenswert sind Wilsons
glaubwürdige Charaktere. Selten hat man es bei auf Ideen und Gedankenkonstrukten
beruhender Science-Fiction mit derartig ausgefeilten Charakteren zu tun.
Zugegeben, für diesen Roman sind sie auch absolut notwendig. Das Ende des
Romans, oft die Schwäche in ähnliche Kerben schlagender Romane, könnte
enttäuschen. Es bleiben einige Fragen offen. Alles in allem ist das Ende jedoch
rund und stimmig. Da es heute so selten ist, sollte man erwähnen, dass der Roman
vollständig in sich abgeschlossen und kein Teil einer Serie ist.
"Die Chronolithen" ist eine kurzweilig zu lesende, intelligente und
faszinierende Zukunftsvision, die mit stimmigen Charakteren überzeugen kann.
Genau das richtige Futter für Fans etwas anspruchsvollerer Science-Fiction, ohne
dabei jegliche Vorkenntnisse vorauszusetzen. Zudem ist der Roman auch noch sehr
unterhaltsam und spannend geschrieben – Abzüge gibt es nur für das etwas
unbefriedigende Ende.
Michael Birke [05.10.2005]
Bücher neu und gebraucht bei amazon.de |
|
|
Bücher gebraucht oder neu bei booklooker.de |
Ihr Kauf bei unseren Shop-Partnern sichert das Bestehen dieses Angebotes.
Danke.
Weitere Titel von und Rezensionen zu Robert Charles Wilson
Weitere Rezensionen in der Kategorie: SF
Robert Charles Wilson: Die Chronolithen
Buy Robert Charles Wilson: Die Chronolithen at Amazon.com (USA)
carpe librum ist ein Projekt von carpe.com und © by Sabine und Oliver Gassner, 1998ff.
Das © der Texte liegt bei den Rezensenten. - Wir vermitteln Texte in ihrem Auftrag. - librum @ carpe.com
Impressum -- Internet-Programmierung: Martin Hönninger, Karlsruhe -- 19.06.2012