Dieses Buch Freunden weiterempfehlen.
Dieses Buch kaufen bei Amazon.de
Buy Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei at Amazon.com (USA)
Weitere Buchbesprechungen bei Amazon.de.
Wenn ein Kennzeichen der Novelle der Einbruch des Unerwarteten, Unkontrollierbaren
ist, wenn Sujets dieser jahrhundertealten und so modernen Erzählgattung
die Macht des Eros und die kriminelle Energie sexueller Attraktion sind,
wenn ihr formales Merkmal die unausweichliche Dynamik des Geschehens ist,
dann hat Dieter Wellershoff eine Novelle geschrieben, wie sie klassischer
kaum sein könnte: Ein Mann in scheinbar gesicherten familiären
Verhältnissen begegnet einer Frau, die ihn gleichermaßen verstört
und anzieht, deren Nähe er halbbewußt sucht, bis er sie hilflos
in feindlicher Natur findet und rettet. Doch als der Moment zur Liebesvereinigung
gekommen wäre, läßt er ihn verstreichen.
Dieter Wellershoff, der heute seinen siebzigsten Geburtstag feiert,
variiert in seiner neuen Novelle "Zikadengeschrei" das Thema einer früheren
Arbeit: Die Novelle "Die Sirene", erschienen vor fünfzehn Jahren,
handelt ebenfalls von einer eigentlich ungewollten, ungewollt angestrebten
und doch verpaßten erotischen Gelegenheit. War es damals ein Wissenschaftler,
der den Einflüsterungen einer offenbar äußerst labilen,
gefährdeten und damit gefährlichen Anruferin erliegt, sie zu
treffen versucht und verfehlt, so ist es in seiner jüngsten Arbeit
ein alternder Architekt, der im Urlaub mit Frau und halbwüchsiger
Tochter an der spanischen Mittelmeerküste seiner verheirateten Bungalownachbarin,
einer faszinierend schönen, von einer halbseitigen Gesichtslähmung
jedoch furchtbar entstellten Schauspielerin verfällt. Während
aber die "Sirene" von der unmerklich in den Telefondialogen sich einstellenden
Schwüle erfüllt ist, von der Spannung einer letztlich irrealen
Beziehung, die sich über Monate und in Etappen aufbaut, lebt "Zikadengeschrei"
von der überaus lakonischen Erzählhaltung, für die Wellershoff
sich entschieden hat.
In den vergangenen Jahren hat der Kölner Autor und Literaturwissenschaftler
vor allem autobiographisch gearbeitet und dabei mit großer Genauigkeit
und Ausführlichkeit die Erinnerungen an den Leukämietod seines
Bruders ("Blick auf einen fernen Berg", 1991) und an seine Soldatenzeit
im Zweiten Weltkrieg ("Der Ernstfall", 1995) festgehalten. Die Novelle
jedoch ist das Gegenteil von ausführlich; nur das Nötigste wird
erzählt. Vom dritten Satz an entfaltet sich der Sog einer beklemmenden
Ungewißheit: "Die beiden Torflügel der Einfahrt waren weit
geöffnet, doch im langsamen Heranrollen konnte Böhring nicht
erkennen, wie sich die Zufahrtsstraße innerhalb des Grundstücks
fortsetzte. Sie schien in der Tiefe zu verschwinden oder plötzlich
zu Ende zu sein, wie das letzte Stück einer Sprungschanze, in dessen
luftiger Verlängerung als eine unerwartet nahegerückte Verheißung
sich ein blauer Streifen Meer zeigte."
Die Irritation beginnt nicht erst mit dem Auftauchen der fremden Frau;
es ist eine Beklemmung, die dem Mann das beunruhigend Offene, Undefinierte
seiner ganzen Existenz vor Augen führt. Verachtet sein Geschäftspartner
ihn nicht eigentlich? Wird er ausgebootet? Lieben seine Frau, seine Tochter
ihn überhaupt? Böhring stellt sich diese Fragen fortgesetzt selbst.
Wie er es kaum wagt, im Meer zu schwimmen, seit er bei einer Panikattacke
fast ertrunken wäre, traut er dem Fundament seines Lebens keine Tragfestigkeit
mehr zu. Fragen voller Selbstzweifel nehmen breiten Raum ein. Die um ein
Haar katastrophale Fixiertheit auf die unbekannte Frau wird von ihm denn
auch angenommen als existentielle, womöglich sinnstiftende Herausforderung
(die er vor seinen Lieben freilich verbirgt).
Auf diese Spannung ist alles in der Novelle bezogen; Wellershoff erweist
sich wieder einmal als kalkulierender, seine Mittel bewußt und ökonomisch
einsetzender Erzähler. Das Doppelbödige des menschlichen Daseins
spiegelt sich im Uneindeutigen der Naturdinge. Das auf den ersten Blick
so wohnliche Appartement ist von Stechmücken verseucht, ein Bächlein
könnte ebensogut eine Abwasserleitung sein, das strahlende Wetter
kann jederzeit umschlagen in wütenden Gewittersturm. Aber dieser durchkalkulierte
Aufbau, die Ökonomie der Sprache, die scheinbar mühelose Erzähldisziplin
- all die Stärken des schmalen Bändchens stehen in Gefahr, in
Schwächen umzuschlagen, bei aller Klassizität zu ermüden.
Ernüchtert steht der Antiheld schließlich vor den Scherben seines
unterdrückten Gefühlsüberschwangs. Den Leser hat die Ernüchterung
womöglich schon früher erwischt.
Julia Schröder
Bücher neu und gebraucht bei amazon.de |
|
|
Bücher gebraucht oder neu bei booklooker.de |
Ihr Kauf bei unseren Shop-Partnern sichert das Bestehen dieses Angebotes.
Danke.
Weitere Titel von und Rezensionen zu Dieter Wellershoff
Weitere Rezensionen in der Kategorie: Kurzprosa
Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei
Buy Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei at Amazon.com (USA)
carpe librum ist ein Projekt von carpe.com und © by Sabine und Oliver Gassner, 1998ff.
Das © der Texte liegt bei den Rezensenten. - Wir vermitteln Texte in ihrem Auftrag. - librum @ carpe.com
Impressum -- Internet-Programmierung: Martin Hönninger, Karlsruhe -- 19.06.2012