Dieter Wellershoff

Zikadengeschrei

Kurzprosa. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln. ISBN: 3-462-02444-2

Dieter  Wellershoff: Zikadengeschrei

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Wenn ein Kennzeichen der Novelle der Einbruch des Unerwarteten, Unkontrollierbaren ist, wenn Sujets dieser jahrhundertealten und so modernen Erzählgattung die Macht des Eros und die kriminelle Energie sexueller Attraktion sind, wenn ihr formales Merkmal die unausweichliche Dynamik des Geschehens ist, dann hat Dieter Wellershoff eine Novelle geschrieben, wie sie klassischer kaum sein könnte: Ein Mann in scheinbar gesicherten familiären Verhältnissen begegnet einer Frau, die ihn gleichermaßen verstört und anzieht, deren Nähe er halbbewußt sucht, bis er sie hilflos in feindlicher Natur findet und rettet. Doch als der Moment zur Liebesvereinigung gekommen wäre, läßt er ihn verstreichen.
Dieter Wellershoff, der heute seinen siebzigsten Geburtstag feiert, variiert in seiner neuen Novelle "Zikadengeschrei" das Thema einer früheren Arbeit: Die Novelle "Die Sirene", erschienen vor fünfzehn Jahren, handelt ebenfalls von einer eigentlich ungewollten, ungewollt angestrebten und doch verpaßten erotischen Gelegenheit. War es damals ein Wissenschaftler, der den Einflüsterungen einer offenbar äußerst labilen, gefährdeten und damit gefährlichen Anruferin erliegt, sie zu treffen versucht und verfehlt, so ist es in seiner jüngsten Arbeit ein alternder Architekt, der im Urlaub mit Frau und halbwüchsiger Tochter an der spanischen Mittelmeerküste seiner verheirateten Bungalownachbarin, einer faszinierend schönen, von einer halbseitigen Gesichtslähmung jedoch furchtbar entstellten Schauspielerin verfällt. Während aber die "Sirene" von der unmerklich in den Telefondialogen sich einstellenden Schwüle erfüllt ist, von der Spannung einer letztlich irrealen Beziehung, die sich über Monate und in Etappen aufbaut, lebt "Zikadengeschrei" von der überaus lakonischen Erzählhaltung, für die Wellershoff sich entschieden hat.
In den vergangenen Jahren hat der Kölner Autor und Literaturwissenschaftler vor allem autobiographisch gearbeitet und dabei mit großer Genauigkeit und Ausführlichkeit die Erinnerungen an den Leukämietod seines Bruders ("Blick auf einen fernen Berg", 1991) und an seine Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg ("Der Ernstfall", 1995) festgehalten. Die Novelle jedoch ist das Gegenteil von ausführlich; nur das Nötigste wird erzählt. Vom dritten Satz an entfaltet sich der Sog einer beklemmenden Ungewißheit: "Die beiden Torflügel der Einfahrt waren weit geöffnet, doch im langsamen Heranrollen konnte Böhring nicht erkennen, wie sich die Zufahrtsstraße innerhalb des Grundstücks fortsetzte. Sie schien in der Tiefe zu verschwinden oder plötzlich zu Ende zu sein, wie das letzte Stück einer Sprungschanze, in dessen luftiger Verlängerung als eine unerwartet nahegerückte Verheißung sich ein blauer Streifen Meer zeigte."
Die Irritation beginnt nicht erst mit dem Auftauchen der fremden Frau; es ist eine Beklemmung, die dem Mann das beunruhigend Offene, Undefinierte seiner ganzen Existenz vor Augen führt. Verachtet sein Geschäftspartner ihn nicht eigentlich? Wird er ausgebootet? Lieben seine Frau, seine Tochter ihn überhaupt? Böhring stellt sich diese Fragen fortgesetzt selbst. Wie er es kaum wagt, im Meer zu schwimmen, seit er bei einer Panikattacke fast ertrunken wäre, traut er dem Fundament seines Lebens keine Tragfestigkeit mehr zu. Fragen voller Selbstzweifel nehmen breiten Raum ein. Die um ein Haar katastrophale Fixiertheit auf die unbekannte Frau wird von ihm denn auch angenommen als existentielle, womöglich sinnstiftende Herausforderung (die er vor seinen Lieben freilich verbirgt).
Auf diese Spannung ist alles in der Novelle bezogen; Wellershoff erweist sich wieder einmal als kalkulierender, seine Mittel bewußt und ökonomisch einsetzender Erzähler. Das Doppelbödige des menschlichen Daseins spiegelt sich im Uneindeutigen der Naturdinge. Das auf den ersten Blick so wohnliche Appartement ist von Stechmücken verseucht, ein Bächlein könnte ebensogut eine Abwasserleitung sein, das strahlende Wetter kann jederzeit umschlagen in wütenden Gewittersturm. Aber dieser durchkalkulierte Aufbau, die Ökonomie der Sprache, die scheinbar mühelose Erzähldisziplin - all die Stärken des schmalen Bändchens stehen in Gefahr, in Schwächen umzuschlagen, bei aller Klassizität zu ermüden. Ernüchtert steht der Antiheld schließlich vor den Scherben seines unterdrückten Gefühlsüberschwangs. Den Leser hat die Ernüchterung womöglich schon früher erwischt.

Julia Schröder






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