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Vom Krieg im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts ist auf sehr unterschiedliche
Weise erzählt worden. Ernst Jünger wurden die Materialschlachten
des Ersten Weltkriegs zu "Stahlgewittern", in denen der Soldat zum Krieger
von mythischer Überlebensgröße reift - sofern er überlebt.
Erich Maria Remarque kritisierte solcherlei Heroismus, indem er das massenhafte
Sterben zwischen Granattrichtern letztlich in der lakonischen Meldung,
es gebe "im Westen nichts Neues" zusammenfaßt. Um allerdings seinen
Pazifismus zu begründen, versieht Remarque - Kind seiner Zeit - das
Einzelschicksal mit einem Leidenspathos, das jede andere Haltung als pathologische
erscheinen lassen muß. Unheroisch und unpathetisch zugleich erinnert
sich der Schriftsteller Dieter Wellershoff, der in diesem Herbst seinen
siebzigsten Geburtstag feiert, an den Zweiten Weltkrieg. Sein "Ernstfall"
liefert, darin den beiden vorgenannten ähnlich, in der Tat "Innenansichten
des Krieges", wie der Untertitel lautet. Innenansichten, um es vorwegzunehmen,
auch für den, der Kriegsbücher nicht lesen mag.
Im Spätsommer 1943 meldet sich der Siebzehnjährige nach dem
Ende des Arbeitsdienstes freiwillig, um der fälligen Einberufung zu
einer ungeliebten Waffengattung zuvorzukommen, wird in den besetzten Niederlanden
ausgebildet und für das in Berlin stationierte "Begleitregiment Hermann
Göring" ausgewählt. Auf das Leben in der noch leidlich funktionierenden
Metropole folgt während der sowjetischen Sommeroffensive 1944 die
Verlegung an die Ostfront, nach Litauen. Wellershoff erlebt den Stellungskrieg,
ein paar hundert Meter von den russischen Linien entfernt, wird bei einem
desaströsen Angriff auf eine russische Stellung jenseits der Memel
von einem Granatsplitter im Oberschenkel verletzt. Halbwegs genesen, wird
er im Frühjahr 1945 wieder "frontverwendungsfähig" geschrieben,
um bei Kloster Chorin die Reichshauptstadt zu verteidigen. Vor der einrückenden
Roten Armee flieht er, wird von den Amerikanern gefangengenommen und von
den Engländern schließlich ins Zivilschicksal entlassen.
Neben seinen Erfahrungen als Soldat und Verwundeter trägt Wellershoff
den historischen Hintergrund nach, der zum Verständnis des aus der
Perspektive des Augenzeugen Geschilderten nötig ist. Munitioniert
durch gründliches Quellenstudium, erläutert er, was heute der
Geschichtswissenschaft über die Entwicklung sogenannter Wunderwaffen
(Wind- und Elektrokanonen, die dann doch nicht entwickelte Atombombe),
die strategische Unfähigkeit des "GröFaZ" und die Lähmung
der obersten Heeresleitung bekannt ist. Er erklärt die Ahnungslosigkeit
der einfachen Soldaten, die von Nachrichten über den wahren Kriegsverlauf
und die Lage in der Heimat - in der Kaserne wie an der Front - tatsächlich
abgeschnitten waren. Er weist nach, wie wenig so etwas wie Widerstand der
ebenso uninformierten wie indifferenten Bevölkerung überhaupt
bekannt war. So wird der Zeitzeugenbericht auch zu einer zeitgeschichtlichen
Arbeit, die wesentliche Erkenntnisse über den Zweiten Weltkrieg und
die Nazidiktatur zusammenfaßt. - Der stetige Wechsel zwischen erinnertem
Geschehen und historischem Wissen leistet aber nicht nur die sachliche
Aufklärung der Nachgeborenen. Zugleich ermöglicht dieses Verfahren
dem Erzähler und damit seinem Leser immer wieder die Distanzierung
von dem, was, wie die Erfahrung lehrt, in Veteranenanekdoten einerseits,
in die Ästhetisierung des Krieges andererseits umzukippen droht. Daß
dieses nicht geschieht, daß ein Abrutschen der Lektüre in den
bloßen Konsum des Schreckens nicht erlaubt wird, ist auch Wellershoffs
nüchtern-lakonischer, unprätentiöser Prosa zu verdanken
- und seinem unbedingten Willen zu so etwas altmodischem wie Ehrlichkeit.
Er verschweigt nicht die weniger edlen Empfindungen, die einen Soldaten
im Hagel von Granaten und Sprengmunition überfallen, gar wenn es den
Kameraden direkt nebenan erwischt hat: "Paul wimmerte jetzt, und was
er mit der hohen, ängstlichen Stimme eines ängstlichen Kindes
vor sich hinsprach - ,Bitte, Mutti, hilf mir, ich will nicht sterben' -,
erfüllte mich mit einem Gefühl von Peinlichkeit und Befremden.
Was sollte das? Wie schrecklich stellte er sich an!"
Wellershoff hegt ein tiefes Mißtrauen gegenüber der eigenen
Erinnerungsfähigkeit, so detailliert sie funktioniert. Das bewahrt
ihn vor der Versuchung, aus dem sinnlosen Geschehen so etwas wie Sinn zu
destillieren. Sein Leser muß, wie der Erzähler selbst, damit
leben, daß viele Geschichten eben kein Ende haben, daß die
Zeitläufte über den einzelnen, der gerade weggetragen wurde,
auf deprimierende Weise hinwegschreiten: "Genauso, wie wir vom Obergefreiten
Hoppe nichts mehr gehört hatten, hörten wir auch von Paul Olbrich
nichts mehr. Als Ersatz für ihn kam schon mit den Essenholern Edi
Müller nach vorne. Wir waren wieder komplett."
Dieses Mißtrauen, zumindest aber ein spürbarer Vorbehalt
hat den Menschen und den Autor Wellershoff in seinem Verhältnis zur
Welt und zum eigenen Dasein seit jeher bestimmt. Die Erfahrung, "nur
noch zufällig am Leben" zu sein, die ihm dieser Krieg vermittelt
hat, hat er in den autobiographischen Texten der letzten Jahre immer wieder
thematisiert. Dieses Bewußtsein sei es vor allem, schreibt er im
ersten Kapitel, das ihn von den Jüngeren trenne, wie dem Angestellten
der Krankenkasse, der ihm die Kur in Bad Reichenhall genehmigt.
Das ist nämlich der Anlaß für Wellershoff, dieses Buch
zu schreiben: die Rückkehr an den Ort, wo er fünfzig Jahre zuvor
im Lazarett gelegen hatte, und damit die Rückkehr der Erinnerungen.
Dies aber gerät auch zur einzigen Schwachstelle. Der Erzählrahmen
nötigt ihn, sich am Ende ausführliche Gedanken über den
Umgang mit der noch nicht ganz vergangenen Vergangenheit, über Hegels
"Furie des Verschwindens" zu machen, darüber, wie wichtig es ist,
im möglichst "vollständigen Erzählen" zum Individuellen
vorzudringen und so jede pauschale Interpretation der Historie zu verhüten.
Der "Ernstfall", wie Wellershoff ihn erinnert, macht solche Leseanleitung
glücklicherweise vollkommen überflüssig.
Julia Schröder
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Danke.
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