Dieter Wellershoff

Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges.

Kurzprosa. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln. ISBN: 3-462-02398-5

Dieter  Wellershoff: Der Ernstfall. Innenansichten des Krieges.

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Vom Krieg im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts ist auf sehr unterschiedliche Weise erzählt worden. Ernst Jünger wurden die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs zu "Stahlgewittern", in denen der Soldat zum Krieger von mythischer Überlebensgröße reift - sofern er überlebt. Erich Maria Remarque kritisierte solcherlei Heroismus, indem er das massenhafte Sterben zwischen Granattrichtern letztlich in der lakonischen Meldung, es gebe "im Westen nichts Neues" zusammenfaßt. Um allerdings seinen Pazifismus zu begründen, versieht Remarque - Kind seiner Zeit - das Einzelschicksal mit einem Leidenspathos, das jede andere Haltung als pathologische erscheinen lassen muß. Unheroisch und unpathetisch zugleich erinnert sich der Schriftsteller Dieter Wellershoff, der in diesem Herbst seinen siebzigsten Geburtstag feiert, an den Zweiten Weltkrieg. Sein "Ernstfall" liefert, darin den beiden vorgenannten ähnlich, in der Tat "Innenansichten des Krieges", wie der Untertitel lautet. Innenansichten, um es vorwegzunehmen, auch für den, der Kriegsbücher nicht lesen mag.
Im Spätsommer 1943 meldet sich der Siebzehnjährige nach dem Ende des Arbeitsdienstes freiwillig, um der fälligen Einberufung zu einer ungeliebten Waffengattung zuvorzukommen, wird in den besetzten Niederlanden ausgebildet und für das in Berlin stationierte "Begleitregiment Hermann Göring" ausgewählt. Auf das Leben in der noch leidlich funktionierenden Metropole folgt während der sowjetischen Sommeroffensive 1944 die Verlegung an die Ostfront, nach Litauen. Wellershoff erlebt den Stellungskrieg, ein paar hundert Meter von den russischen Linien entfernt, wird bei einem desaströsen Angriff auf eine russische Stellung jenseits der Memel von einem Granatsplitter im Oberschenkel verletzt. Halbwegs genesen, wird er im Frühjahr 1945 wieder "frontverwendungsfähig" geschrieben, um bei Kloster Chorin die Reichshauptstadt zu verteidigen. Vor der einrückenden Roten Armee flieht er, wird von den Amerikanern gefangengenommen und von den Engländern schließlich ins Zivilschicksal entlassen.
Neben seinen Erfahrungen als Soldat und Verwundeter trägt Wellershoff den historischen Hintergrund nach, der zum Verständnis des aus der Perspektive des Augenzeugen Geschilderten nötig ist. Munitioniert durch gründliches Quellenstudium, erläutert er, was heute der Geschichtswissenschaft über die Entwicklung sogenannter Wunderwaffen (Wind- und Elektrokanonen, die dann doch nicht entwickelte Atombombe), die strategische Unfähigkeit des "GröFaZ" und die Lähmung der obersten Heeresleitung bekannt ist. Er erklärt die Ahnungslosigkeit der einfachen Soldaten, die von Nachrichten über den wahren Kriegsverlauf und die Lage in der Heimat - in der Kaserne wie an der Front - tatsächlich abgeschnitten waren. Er weist nach, wie wenig so etwas wie Widerstand der ebenso uninformierten wie indifferenten Bevölkerung überhaupt bekannt war. So wird der Zeitzeugenbericht auch zu einer zeitgeschichtlichen Arbeit, die wesentliche Erkenntnisse über den Zweiten Weltkrieg und die Nazidiktatur zusammenfaßt. - Der stetige Wechsel zwischen erinnertem Geschehen und historischem Wissen leistet aber nicht nur die sachliche Aufklärung der Nachgeborenen. Zugleich ermöglicht dieses Verfahren dem Erzähler und damit seinem Leser immer wieder die Distanzierung von dem, was, wie die Erfahrung lehrt, in Veteranenanekdoten einerseits, in die Ästhetisierung des Krieges andererseits umzukippen droht. Daß dieses nicht geschieht, daß ein Abrutschen der Lektüre in den bloßen Konsum des Schreckens nicht erlaubt wird, ist auch Wellershoffs nüchtern-lakonischer, unprätentiöser Prosa zu verdanken - und seinem unbedingten Willen zu so etwas altmodischem wie Ehrlichkeit.
Er verschweigt nicht die weniger edlen Empfindungen, die einen Soldaten im Hagel von Granaten und Sprengmunition überfallen, gar wenn es den Kameraden direkt nebenan erwischt hat: "Paul wimmerte jetzt, und was er mit der hohen, ängstlichen Stimme eines ängstlichen Kindes vor sich hinsprach - ,Bitte, Mutti, hilf mir, ich will nicht sterben' -, erfüllte mich mit einem Gefühl von Peinlichkeit und Befremden. Was sollte das? Wie schrecklich stellte er sich an!"
Wellershoff hegt ein tiefes Mißtrauen gegenüber der eigenen Erinnerungsfähigkeit, so detailliert sie funktioniert. Das bewahrt ihn vor der Versuchung, aus dem sinnlosen Geschehen so etwas wie Sinn zu destillieren. Sein Leser muß, wie der Erzähler selbst, damit leben, daß viele Geschichten eben kein Ende haben, daß die Zeitläufte über den einzelnen, der gerade weggetragen wurde, auf deprimierende Weise hinwegschreiten: "Genauso, wie wir vom Obergefreiten Hoppe nichts mehr gehört hatten, hörten wir auch von Paul Olbrich nichts mehr. Als Ersatz für ihn kam schon mit den Essenholern Edi Müller nach vorne. Wir waren wieder komplett."
Dieses Mißtrauen, zumindest aber ein spürbarer Vorbehalt hat den Menschen und den Autor Wellershoff in seinem Verhältnis zur Welt und zum eigenen Dasein seit jeher bestimmt. Die Erfahrung, "nur noch zufällig am Leben" zu sein, die ihm dieser Krieg vermittelt hat, hat er in den autobiographischen Texten der letzten Jahre immer wieder thematisiert. Dieses Bewußtsein sei es vor allem, schreibt er im ersten Kapitel, das ihn von den Jüngeren trenne, wie dem Angestellten der Krankenkasse, der ihm die Kur in Bad Reichenhall genehmigt.
Das ist nämlich der Anlaß für Wellershoff, dieses Buch zu schreiben: die Rückkehr an den Ort, wo er fünfzig Jahre zuvor im Lazarett gelegen hatte, und damit die Rückkehr der Erinnerungen. Dies aber gerät auch zur einzigen Schwachstelle. Der Erzählrahmen nötigt ihn, sich am Ende ausführliche Gedanken über den Umgang mit der noch nicht ganz vergangenen Vergangenheit, über Hegels "Furie des Verschwindens" zu machen, darüber, wie wichtig es ist, im möglichst "vollständigen Erzählen" zum Individuellen vorzudringen und so jede pauschale Interpretation der Historie zu verhüten. Der "Ernstfall", wie Wellershoff ihn erinnert, macht solche Leseanleitung glücklicherweise vollkommen überflüssig.


Julia Schröder






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