Hans-Ulrich Treichel

Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel

Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. ISBN: 3-518-39611-0

Hans-Ulrich  Treichel: Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel

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"Ich hatte den Vater bis zum Tag seines ersten Herzinfarktes, der ihn drei Tage vor seinem zweiten ereilt hatte, nie ohne eine seiner filterlosen Zigaretten gesehen." Da tun sich scheint's Abgründe auf. Der Schein trügt nicht; manchmal fangen die schönsten Geschichten ganz harmlos an. Hans-Ulrich Treichel heißt der Mann, dem das Publikum einen Band mit dem vielversprechenden Titel "Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel" verdankt. Er versammelt zwölf selbsterlebte, "Besichtigungen" genannte Geschichten, deren erste mit seiner eigenen, titelgebenden Hausgeburt anfängt und damit den Grund legt für die weiteren, die sich zusehends von Kindheit, Jugend und erster Berufstätigkeit ("Berliner Arbeiten") hinwegobjektivieren zu scheinbar willkürlich gewählten Ausflügen in ein Amrumer Kurzentrum, nach Stendal, nach Venedig, gar ins "Poetische Portugal" und in die Gedenkstätte, die am Wannsee an die danach benannte Konferenz erinnert.
Hans-Ulrich Treichel ist kein Journalist. Bekannt wurde er mit Gedichten und Libretti. (Vor vier Jahren hat er einmal Prosa in der Art der "Heimatkunde" veröffentlicht: "Berichte" nannte er das damals unter dem Titel "Von Leib und Seele" vorgelegte.) Aber davon, wie er seine Beobachtungen schildert, seine Eindrücke arrangiert, könnte mancher Reporter sich eine Scheibe abschneiden: genau, unspektakulär, à point gewissermaßen und dazu so komisch und traurig wie das erinnerte Leben selbst. In der bereits zitierten Erzählung "Helden des Rauchens" ist es das Leben (und Sterben), wie übermäßiger Kondensatkonsum und fortgesetzte Nikotinimmission es bescheren. Die Wallfahrt der Gefäß- und Atemwegskranken zum Tabakwarenladen von Treichel senior entlarvt - zur Kenntlichkeit verzerrt in der Untersicht der Kinderperspektive - die Lebenslügen der hochgradig Süchtigen, der bis zum Kehlkopfkrebs Abhängigen: "Rauchen sei eine Leidenschaft, sagte die mechanische Stimme von Herrn Blaschke, aber Trinken sei ein Laster."
Nicht nur die schleichende Groteske macht diese Ausflüge so lesenswert. Bei Treichel, Jahrgang 1952, wird ein Zeitalter besichtigt. Wo sind sie eigentlich geblieben, fragt der Leser sich, die Prothesenträger des zweiten Nachkriegsjahrzehnts? Was ist aus den Heimatkundelehrern der frühen Sechziger geworden, die "Hakenkreuzritzerei" an Externsteinen und am Hermannsdenkmal seltsam unbeschwert mit "dummen Jungs" in Verbindung brachten, um anschließend "die Verwendung des alten kultischen Sonnenzeichens, welches in unserer westfälischen Heimat schon immer verwandt worden sei", zu rechtfertigen? Wie konnten wir sie vergessen, die aufbau-, vor allem aber aufstiegsorientierten Heimkehrer, die spätberufenen Schmalspurpastoren mit theologischer Schnellbleiche?
Bei Treichel weht plötzlich wieder ihr muffiger Atem und beschlägt die blankpolierte bundesrepublikanische Szene. Deren blinde Flecken sind es, die Treichel sichtbar macht; welchem Schriftsteller von Anspruch sind seine frühen Aushilfsjobs in einer Getränkefabrik, im Lebensmittelbunker des Berliner Senats, in der Pharmaindustrie je des Aufschreibens wert gewesen? (Und wer hätte sie so nüchtern-detailgeschwängert hingekriegt?) Wer neigte nicht eher dazu, scheiternde Bildungsreisen und aufs lächerlichste mißglückende Übersetzertreffen zu verschweigen oder wenigstens mit dem freundlichen Schimmer der Anekdote zu firnissen?
Treichel schont seine Figuren zwar nicht, aber sich am allerwenigsten. Er tut nicht so, als könnte der Beobachter durch Gegenden voller kaputter Zigarettenautomaten und versperrter Betriebstoiletten, durch Urin- und Vorortzuggeruch schreiten, dumme Lebensweisheiten und zerschlissene Gardinen-Predigten über sich ergehen lassen, ohne etwas davon anzunehmen. Er und seine Begleitung, die nach Stendal reisen, um auf Stendhals Spuren alles "heiter und edel" zu finden, müssen sich schließlich "mit Kaffee, Aspirin und einer Rinderkraftbrühe" vom Eindruck der vom Braunkohlequalm erstickten Stadt und von "den Wirren der Zeiten" erholen.
Menschen, die solche "Heimatkunde" ereilt hat, erkennen die Fremde. Ihnen wird schließlich auch Venedig, das durchgondelte, durchhupte, von Reisegruppen gestürmte, sein Geheimnis vorenthalten müssen - "es liegt am Grunde des großen Kanals".

Julia Schröder






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