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"Ich hatte den Vater bis zum Tag seines ersten Herzinfarktes, der
ihn drei Tage vor seinem zweiten ereilt hatte, nie ohne eine seiner filterlosen
Zigaretten gesehen." Da tun sich scheint's Abgründe auf. Der
Schein trügt nicht; manchmal fangen die schönsten Geschichten
ganz harmlos an. Hans-Ulrich Treichel heißt der Mann, dem das Publikum
einen Band mit dem vielversprechenden Titel "Heimatkunde oder Alles ist
heiter und edel" verdankt. Er versammelt zwölf selbsterlebte, "Besichtigungen"
genannte Geschichten, deren erste mit seiner eigenen, titelgebenden Hausgeburt
anfängt und damit den Grund legt für die weiteren, die sich zusehends
von Kindheit, Jugend und erster Berufstätigkeit ("Berliner Arbeiten")
hinwegobjektivieren zu scheinbar willkürlich gewählten Ausflügen
in ein Amrumer Kurzentrum, nach Stendal, nach Venedig, gar ins "Poetische
Portugal" und in die Gedenkstätte, die am Wannsee an die danach benannte
Konferenz erinnert.
Hans-Ulrich Treichel ist kein Journalist. Bekannt wurde er mit Gedichten
und Libretti. (Vor vier Jahren hat er einmal Prosa in der Art der "Heimatkunde"
veröffentlicht: "Berichte" nannte er das damals unter dem Titel
"Von Leib und Seele" vorgelegte.) Aber davon, wie er seine Beobachtungen
schildert, seine Eindrücke arrangiert, könnte mancher Reporter
sich eine Scheibe abschneiden: genau, unspektakulär, à point
gewissermaßen und dazu so komisch und traurig wie das erinnerte Leben
selbst. In der bereits zitierten Erzählung "Helden des Rauchens"
ist es das Leben (und Sterben), wie übermäßiger Kondensatkonsum
und fortgesetzte Nikotinimmission es bescheren. Die Wallfahrt der Gefäß-
und Atemwegskranken zum Tabakwarenladen von Treichel senior entlarvt -
zur Kenntlichkeit verzerrt in der Untersicht der Kinderperspektive - die
Lebenslügen der hochgradig Süchtigen, der bis zum Kehlkopfkrebs
Abhängigen: "Rauchen sei eine Leidenschaft, sagte die mechanische
Stimme von Herrn Blaschke, aber Trinken sei ein Laster."
Nicht nur die schleichende Groteske macht diese Ausflüge so lesenswert.
Bei Treichel, Jahrgang 1952, wird ein Zeitalter besichtigt. Wo sind sie
eigentlich geblieben, fragt der Leser sich, die Prothesenträger des
zweiten Nachkriegsjahrzehnts? Was ist aus den Heimatkundelehrern der frühen
Sechziger geworden, die "Hakenkreuzritzerei" an Externsteinen und am
Hermannsdenkmal seltsam unbeschwert mit "dummen Jungs" in Verbindung
brachten, um anschließend "die Verwendung des alten kultischen
Sonnenzeichens, welches in unserer westfälischen Heimat schon immer
verwandt worden sei", zu rechtfertigen? Wie konnten wir sie vergessen,
die aufbau-, vor allem aber aufstiegsorientierten Heimkehrer, die spätberufenen
Schmalspurpastoren mit theologischer Schnellbleiche?
Bei Treichel weht plötzlich wieder ihr muffiger Atem und beschlägt
die blankpolierte bundesrepublikanische Szene. Deren blinde Flecken sind
es, die Treichel sichtbar macht; welchem Schriftsteller von Anspruch sind
seine frühen Aushilfsjobs in einer Getränkefabrik, im Lebensmittelbunker
des Berliner Senats, in der Pharmaindustrie je des Aufschreibens wert gewesen?
(Und wer hätte sie so nüchtern-detailgeschwängert hingekriegt?)
Wer neigte nicht eher dazu, scheiternde Bildungsreisen und aufs lächerlichste
mißglückende Übersetzertreffen zu verschweigen oder wenigstens
mit dem freundlichen Schimmer der Anekdote zu firnissen?
Treichel schont seine Figuren zwar nicht, aber sich am allerwenigsten.
Er tut nicht so, als könnte der Beobachter durch Gegenden voller kaputter
Zigarettenautomaten und versperrter Betriebstoiletten, durch Urin- und
Vorortzuggeruch schreiten, dumme Lebensweisheiten und zerschlissene Gardinen-Predigten
über sich ergehen lassen, ohne etwas davon anzunehmen. Er und seine
Begleitung, die nach Stendal reisen, um auf Stendhals Spuren alles "heiter
und edel" zu finden, müssen sich schließlich "mit Kaffee,
Aspirin und einer Rinderkraftbrühe" vom Eindruck der vom Braunkohlequalm
erstickten Stadt und von "den Wirren der Zeiten" erholen.
Menschen, die solche "Heimatkunde" ereilt hat, erkennen die Fremde.
Ihnen wird schließlich auch Venedig, das durchgondelte, durchhupte,
von Reisegruppen gestürmte, sein Geheimnis vorenthalten müssen
- "es liegt am Grunde des großen Kanals".
Julia Schröder
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