Lea Singer

Die Zunge

Roman. Klett Cotta, Stuttgart. ISBN: 3-608-93520-7

Lea  Singer: Die Zunge

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Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouchés, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immortalität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das flüchtige Reich der Gerüche.

Mit diesen Worten beginnt Patrick Süßkinds 1985 gefeierte Geschichte eines Mörders "Das Parfum"

Und ebenso wie Süßkind seinen abartigen Romanhelden Grenouille durch das Paris der vorrevolutionären Zeit schickt, gelingt es Lea Singer in ihrem Roman "Die Zunge" eine brillante Facette dieser von Verruchtheiten strotzenden Ära des 18. Jahrhunderts einzufangen. Ihr Titelheld, Alexandre-Balthazar-Laurent Grimond de la Reynière, wird wenige Jahre nach Süßkinds Grenouille ebenfalls in Paris geboren. Allerdings nicht als Kind eines armen Fischweibs vom Markt, sondern als Sohn eines vermögenden, adligen Steuerpächters. Doch Grimod ist wie Quasimodo mit fürchterlichen Entstellungen auf die Welt gekommen. Anstelle zweier Hände besitzt er nur Klauen an den verkrüppelten Armen, deren Scheren und Zangen es ihm wahrhaft schwer machen, Gottes Schöpfungen zu begreifen.

Seine Eltern hoffen zunächst auf eine schnelle Erlösung und, nachdem ihnen diese Gnade nicht zuteil wird, brachten sie das Gerücht in Umlauf, dass eine Sau in einem unachtsamen Augenblick des Kindermädchens dem Knaben die Gliedmaßen abgefressen habe.

Trotzdem verstecken sie Grimod und so ist der Junge häufig nur in der Obhut des Hauspersonals, vornehmlich in der Küche. Und genau dort, im flüchtigen Reich der Kräuter, Düfte, Dämpfe, im Sumpf der geschlachteten Tiere, beginnt Grimod seine Sinne zu schärfen, allen voran seinen Geschmackssinn, dessen wichtigstes Instrument, die Zunge, er fortan beharrlich trainiert und verfeinert. Als Sohn eines Adligen entwickelt sich Grimod wie andere reiche Nichtstuer nicht zur Freude seiner Eltern. Als junger Herr bereitet es ihm diebisches Vergnügen seine Eltern, die ihn so gnadenlos jahrelang verleugnet haben, von einem gesellschaftlichen Affront in den nächsten zu ziehen. Seine Spottsucht bringt ihn in die Theater der Stadt und er entwickelt sich zu einem der geschätztesten Theaterkritiker des Landes. Aber auch seine berufliche Laufbahn als Anwalt krönt der händelose Krüppel mit zahllosen Erfolgen. Trotzdem ereilt ihn zweimalige Verbannung - einmal durch die Eltern in seiner Jugend, später durch den König selbst - eine herzlose Zeit für G. de la Reynière, der mit Paris verwurzelt ist.

Doch das Schicksal erspart ihm während seiner zweiten Abwesenheit die Wirren der großen Revolution, das tödliche Sirren der Guillotine, dessen Erfinder er neben Lavater, Mirabeau und Voltaire gelegentlich trifft - ja sogar Napoleon, dem kleinen Korsen, begegnet er -unerkannt- auf einem von G. veranstalteten Fest.

Doch ständig lebt der Gourmet, Verfechter und gelegentlich auch Verächter des guten Geschmacks, und Erfinder des Feinschmecker-Lokale-Tests, einer Ausweichtätigkeit seines Rezensentendaseins, nachdem Fouchés, Paris gewalttätiger Polizeikommissar, ihm die Theaterkritiken verboten hat, am Rande des Ruins. Und dies nicht nur, weil er hin und wieder ein haltloser Genießer und Verschwender ist, sondern ganz besonders auch, weil er sich oft in der Ehrlichkeit und Lauterkeit seiner Umwelt täuscht, vornehmlich in den Frauen, die er einerseits auf das Vorzüglichste mit seinem gut durchtrainierten Geschmacksorgan beglückt, andererseits deren Gier aber auch völlig unterschätzt.

Einzig die letzten Seiten des Buches hätte sich die Autorin Lea Singer, die so gelungene Stimmungsbilder in der wuchtigen Sprache des Ancien Paris einfängt, im Prinzip ersparen können: Es ist nicht notwendig die Lebensgeschichte des Helden bis in sein hohes Alter zu verfolgen - alles, was dem Leser nahe zu bringen ist, hätte auch mit dem folgenden ihrer Sätze enden können: Moralisten lassen sich keine Zeit. Menschen mit Geschmack dagegen immer. Denn Genuß macht langsam.

Schade, dass " Die Zunge" bereits nach rund 300 Seiten verkostet ist, denn der Büchergourmet würde sich gerne noch etwas mehr dieses exzellenten Buchstabengerichts einverleiben wollen.

Manuela Haselberger © by bookinist.de






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