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München, Hanser, 1999, ISBN 3-446-19852-2
Die USA waren ein wichtiges Auffangbecken für rechtzeitig emigrierte
oder der Katastrophe doch noch entkommene Juden. Dabei fanden viele europäische
Juden vor allem in New York eine – vorläufige – Bleibe, da diese Stadt
erstens meist der Ankunftsort war und zweitens der urbanen Men- talität
der Europäer entgegenkam.
In Isaac B. Singers Roman schlagen sich vor allem polnische Juden durch
den ungewohnten New Yorker Alltag, mehr oder weniger erfolgreiche Schauspieler,
Kaufleute, Professoren und Ärzte. Allen ist gemein, dass sie sich
in der neuen Welt, in die sie nicht das Fernweh sondern der drohende Tod
getrieben hat, nicht zurechtfinden. Die polnischen Juden, allen voran die
Chassiden, hatten vor dem Zweiten Weltkrieg ein sehr auf ihre Gemeinschaft
zentriertes, von der jüdischen Religion dominiertes Leben geführt.
Dort hatte jeder seinen festen Platz – der Rabbi, die Frauen, die jungen
Leute – und die Lebensart des Westens mit ihren weltlichen Verlockungen
hatte hier noch keine Wurzeln geschlagen. Hitlers Judenverfolgung hat diese
Menschen, so sie Glück hatten, ausgerechnet in das Mekka westlicher
Lebensart – oder Dekadenz? – verschlagen und sie dann mit ihrer neuen Umgebung
allein gelassen.
Im Mittelpunkt des Romans steht der jüdische Wissenschaftler Hertz Grein – etwa im Alter Singers! – der mit Frau und zwei fast erwachsenen Kindern in New York lebt, sich jedoch trotz einer durchaus klaren Sicht auf seine gesellschaftliche Umgebung in private Affären verstrickt. Er betrügt seine Frau und seine langjährige Geliebte(!) mit der Tochter eines älteren, reichen und streng gläubigen Juden, der ebenfalls rechtzeitig aus Polen geflohen ist. Da man sich in den New Yorker Kreisen der polnischen Juden gut kennt, bleibt der Skandal nicht aus. Vertreibung und Enterbung der Tochter folgen auf dem Fuß.
Doch es geht Singer in diesem Roman nicht um ein Familiendrama Pilcherschen
Zuschnitt; das wäre zu kurz gegriffen. Neben den Protagonisten breitet
er vor dem Leser ein Tableau verschiedenster Charaktere aus. Der
erfolgreiche Arzt, den seine Frau in Deutschland für einen Nazi-Offizier
verlassen hat, der Philosophie-Professor, der fortwährend der Chimäre
eines umfassenden Buches über eine neue Weltphilosophie nachjagt,
gescheiterte Schauspieler mit der Hoffnung auf Hollywood – alle sind sie
aus ihren angestammten Verhältnissen herausgerissen worden und können
sich nur schwer oder gar nicht in der ungewohnten Neuen Welt einrichten.
In schäbigen Pensions- oder Hotelzimmern hängen sie einem verlorenen
Leben nach oder lassen sich von reichen Glaubensgenossen durchfüttern,
wobei sie die Alimentierung schleichend zum Gewohnheitsrecht umdefinieren
und damit den letzten Rest von Selbständigkeit einbüßen.
In der Person des Hertz Grein verdichtet sich das Schicksal einer ganzen
Generation europäischer Juden, soweit sie den Schrecken des Holocausts
rechtzeitig vermieden oder überlebt haben. Entwurzelt treiben sie
durch eine ihnen fremde Gesellschaft, schwanken zwischen Isolierung und
Assimilierung und kompensieren ihre innere Zerrissenheit mit hektischer
Betriebsamkeit oder unbesonnenen Affären. Auch die jüngere Generation
entrinnt diesem Konflikt nicht, obwohl sie von Anbeginn im westlichen Umfeld
aufwächst. Die Erziehung und Fixierung auf eine eng in die jüdische
Tradition eingebundene Elterngeneration lässt sie mit jedem Fuß
in einem anderen Lager stehen. Endgültige Entscheidungen sind da schwer
und Konflikte vorprogrammiert.
Zum Schluss formuliert Singers „alter ego“ Grein das persönliche Glaubensbekenntnis Singers, wenn er allem Weltlichen entsagt und sich den ortho- doxen Juden in Israel anschließt. Nur im radikalen Glauben ohne jegliche profane Ablenkung liegt der wahre Wert eines menschlichen Lebens, und die jüdischen Traditionen und Rituale sind für ihn die Korsettstange, um die herum ein Mensch - und besonders ein Jude - ein erfülltes und sinnvolles Leben aufbauen kann. Die westliche Welt mit ihrer Konsum- und Zerstreuungsphilosophie stellt für Grein/Singer „die Unterwelt“ dar, der man tunlichst entflieht, so lange man dazu noch die Kraft besitzt.
Auch wenn vielleicht nicht jeder Leser diese radikale Schlussfolgerung nachvollziehen kann, beeindruckt der Roman durch die glaubwürdige und erschütternde Darstellung eines Volkes, dessen nicht grausam umgebrachten Reste sich in der Diaspora unter Fremden wiederfinden und sich auch dort ungeliebt sehen. Dem Verlust der Heimat folgt der Verlust der Identität, und der führt in vielen Fällen zum Selbstmord oder zu apathischem Fatalismus. Obwohl als Requiem auf die polnischen Juden geschrieben, gilt dieser Roman in gleichem Maße für alle ausgerotteten oder vertriebenen Völker in Vergangenheit und Gegenwart.
Frank Raudszus
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Danke.
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