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Der Wahnsinn hat
Methode: Troja auf dem Mars!
Im Feldlager der Griechen, am Fuße des Olympus Mons in einer fernen Zukunft,
überwacht der Scholiker Thomas Hockenberry im Auftrag der Muse Melete für die
Götter des Olymps den Verlauf des wohl klassischsten aller Heldenepen: Homer's
Ilias.
Dan Simmons, Autor der Bestseller "Hyperion" und "Endymion", begibt sich aber
nur scheinbar in literarisches Neuland. Einige seiner Personen und Konzepte –
das "Faxen" (Farcaster) und die Entwicklung der Menschheit auf der Erde stellte
er bereits in den beiden Klassikern vor. Sie zeigen sich insbesondere in dem
Handlungsstrang, der auf der nahezu entvölkerten Erde spielt – denn der Olymp
und Troja auf dem Mars stellen nur einen von drei fantastischen
Handlungssträngen dar, die im weiteren Handlungsverlauf zusammenfließen werden.
Da wären noch die Moravecs von den Jupitermonden, grundsätzlich das, was der
Rest der SciFi-Welt als "Cyborgs" bezeichnen würde, Roboter mit einigen
organischen Teilen. Diese werden von massiven Quantenaktivitäten auf dem Mars
angelockt und senden ein Expeditionsschiff aus, zu dessen Crew unter anderem der
hundeähnliche Tiefsee-Experte Mahnmut von Europa und der krabbenartige
Hochvakuum-Moravec Orphu von Io gehören. Die beiden Freunde sind ausgesprochene
Literaten und diskutieren gerne über den tieferen Sinn der Werke von William
Shakespeare und Marcel Proust.
Auf der Erde leben genau 1.000.000 Altmenschen, jeder mit einer Lebensspanne von
100 Jahren. Sie kennen keine Literatur, kaum geschichtliche Ereignisse, können
nicht lesen und leben dekadent rund um die "Faxknoten" der Erde, mit denen man
sich blitzschnell von einer Enklave zur nächsten bewegen kann. Sie habe keine
Vorstellung von Geographie, auf der weitgehend menschenleeren Erde wüten
Dinosaurier und riesenhafte Terrorvögel; nach ihrem Tod, so sind sie überzeugt,
fahren sie auf in die orbitalen Ringstädte der Nachmenschen… Doch der schlaue
Harman zweifelt und denkt über dieses ihm nicht richtig erscheinende Leben nach,
er startet mit einigen Gleichgesinnten eine Erkundung der Welt abseits der
Faxknoten.
Wie passt das alles zusammen? Spätestens, wenn Daeman von einem Allosaurus
gefressen wird, und das von seinen Freunden recht gelassen aufgenommen wird, da
er kurze Zeit später wieder aus einem Faxknoten spaziert - er ist ja noch keine
100 - sollte man merken: Hier stimmt etwas nicht… Das ist genauso absurd wie der
Abschuss des Moravec-Raumschiffes im Orbit des Mars durch einen Blitz, den ein
Gott aus seinem von geflügelten Rossen gezogenen Streitwagen geschleudert hat.
Aber es kommt noch dicker: Am Rand des marsianischen Thetys-Meeres, rund um
Troja herum, hausen die klassischen KGMs (Kleine Grüne Männchen), die an dessen
Küste Steinköpfe bzw. Marsgesichter aufstellen!
Doch der Wahnsinn hat Methode – je mehr man liest, desto mehr Zusammenhänge
werden klar, die Geschichte wird zunehmend spannender. Anfangs wird der Leser
arg im Unklaren gelassen, was Simmons bewusst als Stilmittel einsetzt, was
jedoch auch störend sein kann:
Wenn eine Göttin sich aufs Schlachtfeld "qtet", muss man schon einige Seite
weiterblättern um zu erfahren, dass ein Gott sich bevorzugt per
"Quantenteleportation" vorwärts bewegt. Der Begriff "Scholiker" wird nie
erklärt, er erschließt sich aus Hockenberrys Tätigkeit. Was ein Moravec oder ein
Voynix ist, dazu muss man sich schon das knapp über drei Seiten kurze
Personenverzeichnis ansehen.
Dort erfährt man dann: Moravecs – autonome, empfindungsfähige, biomechanische
Organismen, die während des Untergegangenen Zeitalters von Menschen im äußeren
Sonnensystem ausgesäht wurden.
Zu den Voynixen: Mysteriöse, zweibeinige Geschöpfe, teils Diener, teils
Wachhunde, nicht von der Erde.
Das ist mehr, als man im gesamten Buch über sie liest, insbesondere über die auf
der Erde allgegenwärtigen Voynixe. Dieses Register hilft nicht gerade weiter, es
erregt bestenfalls Argwohn und Interesse (nicht von der Erde – woher denn
sonst?). Simmons spielt mit dem Leser, wie die Altmenschen auf der Erde hat
dieser keine Ahnung, was vor sich geht. Er wirft Fragen auf, die erst nach und
nach beantwortet werden.
Warum lassen die Götter auf dem Mars die Ilias beobachten, und warum
kennen sie deren Ausgang nicht? Oder kennt ihn zumindest der mächtige Zeus, der
mit seinen fast vier Metern selbst die bereits mit zweieinhalb Metern
überlebensgroßen Göttergestalten überragt? Was hat es mit dem "Faxen" auf sich,
was geht im Orbit der Erde vor, was machen die Voynixe überhaupt, wo ist der
Rest der Menschheit, was geschah bei dem ominösen "letzten Fax"?
Und wie passen die exotischen Moravecs mit ihren Shakespeare-Sonetten und ihren
irrsinnigen, spezialisierten Körperformen (acht Tonnen schwer, krebsförmig,
stark gepanzert und auf Hochvakuum ausgelegt), die bei den Kleinen Grünen
Männchen landen, in diesen Irrsinn?
Alle drei Handlungsfäden werden am Ende zusammenlaufen: Der Wunsch einer Göttin,
Thomas Hockenberry solle eine andere Göttin töten, bringt diesen in Gefahr – das
Leben eines Scholikers ist nicht viel Wert, wer versagt, wird ausgelöscht. Was
mag erst auf Göttermord stehen? Was er auch tut, er ist des Todes.
Wie dem auch sei: Der Verlauf der Ilias wird sich ändern, denn
Hockenberry "morpht" in die Rolle diverser Nebenfiguren und versucht Ereignissen
einen anderen Lauf zu geben… Er kämpft um sein Leben und um das der Griechen und
Trojaner, insbesondere das Helenas, die er nicht täuschen kann und die ihn als
falschen Paris enttarnt – da sie ihm den Dolch unter die Weichteile hält, kann
man sich denken, in welcher Situation. Danach gerät die Ilias völlig aus
den Fugen – inwiefern, das möchte ich nicht verraten.
Auf der Erde haben es Harman und Daeman unter den Fittichen von Odysseus und der
"ewigen Jüdin" Savi geschafft, sich Zugang zu den orbitalen Wohnringen zu
verschaffen. Dort erleben sie den Vorhof der Hölle. Während die Moravecs auf dem
Mars nur über Shakespeare reden, sind sie Teil eines Shakespeareschen
Horror-Dramas, welches an die Romanze "Der Sturm" angelehnt ist, und erfahren
das grauenhafte Schicksal der Nachmenschen und erhalten Erkenntnisse darüber,
was wirklich mit ihnen nach 100 Jahren geschieht – und warum Odysseus nicht
"faxen" kann und sich dagegen mit gutem Grund sträubt.
Auf dem Mars wird zum Sturm auf den Olymp geblasen, zum Kampf um das
Fortbestehen der Menschheit – wie das auf einmal? Hier endet "Ilium" mit einem
Cliffhanger. Erst die Fortsetzung "Olympos" schließt, ähnlich wie bei "Hyperion"
der Folgeband "Der Fall von Hyperion"/"Das Ende von Hyperion" (Anm.: In
Deutschland nur noch als Sammelband "Die Hyperion-Gesänge" erhältlich), das
Drama ab.
Es fällt mir schwer, nicht in einer Lobeshymne zu versinken: Simmons hat ein
Kunststück geschafft. "Ilium" ist anspruchsvoll zu lesen, ist dabei aber
zugänglicher und gefällt mir thematisch besser als "Hyperion" und "Endymion".
Entgegen üblicher Unart, Geheimnisse groß aufzubauschen und dann auf den letzten
Seiten vollständig zu entzaubern, bietet Simmons dem Leser ständig Bruchstücke
neuer Erkenntnisse, entwickeln sich neue Zusammenhänge und werden zuvor
unverständliche Dinge klar – am Ende von "Ilium" hat der Leser schon vieles
erfahren, und dennoch bleibt noch genügend offen für den Folgeband.
Dabei kann seine Unart, Begriffe einfach in den Raum zu stellen, wie die Voynixe
und das Faxen/Qten, stören. Man muss damit leider leben, sie ist integraler
Bestandteil der bewussten Strategie, den Leser nach neuen Details gieren zu
lassen, ihn zum Spekulieren und Grübeln anzuregen.
Dan Simmons setzt einiges voraus – wer die originale "Ilias" nicht kennt, wird
schon den ersten Absatz von Ilium nicht verstehen. Der Appell Homers an die
Muse, ihn bei seinem Werk zu unterstützen, mit dem die Ilias beginnt,
wird hier umgeschrieben:
"Singe mir, o Muse, des Peleussohnes und Männertöters Achilles Unheil
bringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern schuf und viele stattliche Seelen
zum Hades hinabstieß."
Soweit das Original – Simmons geht aber weiter:
"Und wenn du schon dabei bist, Muse, singe auch den Zorn der launischen,
mächtigen Götter hier auf ihrem neuen Olymp, den Zorn der Nachmenschen, auch
wenn sie vielleicht tot und begraben sind, und den Zorn jener wenigen echten
Menschen, die es noch gibt, auch wenn sie vielleicht egozentrisch und
überflüssig geworden sind."
Weiter nimmt er recht ulkig Bezug auf die Moravecs:
"Und während du singst, o Muse, singe auch den Zorn jener nachdenklichen,
empfindungsfähigen, ernsthaften, aber nicht sonderlich menschlichen Wesen, die
draußen unter dem Eis von Europa träumen, in der Schwefelasche von Io sterben
und in den kalten Falten des Ganymed geboren werden."
"Aber wenn ich es mir recht überlege, o Muse, singe mir gar nichts. Ich kenne
dich. Man hat mich wider Willen zu deinem Diener gemacht, o Muse, du Miststück
sondergleichen. Und ich traue dir nicht, o Muse. Kein bisschen."
So viel zu den launigen Kommentaren des Scholikers Hockenberry, der für die Muse
die Arbeit übernommen hat, den Verlauf des trojanischen Krieges seit Jahren zu
beobachten. Diese Ironie geht nur dem Kenner der Ilias auf. Man wird zwar
auf Änderungen zum Verlauf der Ilias hingewiesen, aber ohne gute
Kenntnisse der griechischen Mythologie und der Ilias wird man sich
verloren vorkommen.
Kenntnisse von Shakespeare und Proust sind zum Glück nicht zwingend erforderlich
– aber wer "Hyperion" gelesen hat, erkennt die Ähnlichkeiten von "faxen" und dem
Prinzip des Farcasters und vielem mehr, genauso erschließt einem die Kenntnis
der "Suche nach der verlorenen Zeit" von Proust Hinweise auf die Zusammenhänge,
zu einem Zeitpunkt, wo der Leser, der sie nicht hat, von den Disputen der beiden
Moravecs vermutlich schon irritiert ist. Ebenso wie gewisse Figuren aus
Shakespeare's "Sturm" auftauchen werden - sie sind ein Bonus für den gebildeten
Leser, wirklich notwendig zum Genießen des Romans sind nur die Ilias und
die damit einhergehende griechische Sagenwelt – die "Troja"-Kinoversion eines
Wolfgang Petersen reicht hier nicht aus!
Um nicht nur in der Klassik zu versinken, kommt der Horror auch nicht zu kurz,
soviel sei verraten – Aliens und Lovecraft lassen grüßen.
"Ilium" ist ein herausragender Roman, dessen einzige Schwächen die in diesem
Maße unnötige Verwendung unkommentierter, unbekannter Ausdrücke und der relativ
hohe Anspruch an die Leserschaft sind. Diese wird jedoch mit gleich drei
irrsinnig abgefahrenen Geschichten belohnt. In der Nachsicht erkenne ich einige
kleinere Unstimmigkeiten, aber nur einen großen Recherchepatzer von Simmons
bezüglich des Endes der Ilias. Ansonsten ein perfekt organisierter,
fantasievoller Wahnsinn, der stets interessant ist und bleibt – es bleibt zu
hoffen, dass Simmons auch für "Olympos" wieder von der Muse so reichlich geküsst
wird, die er zuvor zum Miststück erklärt hat. Eine gute Wahl hat Heyne auch mit
dem Übersetzer Peter Robert getroffen, das Buch ist tadellos übersetzt, so hat
er zum Beispiel bei den "kalten Falten des Ganymed" Simmons Humor sehr gut in
die deutsche Sprache transferiert. Vom editorialen Aufwand für die Einbindung
von Homer, Shakespeare und Proust und den Worteigenkreationen Simmons' ganz zu
schweigen. Die Filmrechte für "Ilium" und "Olympos" sind bereits verkauft –
hoffen wir, dass eine bessere Verfilmung als Petersen's Troja daraus entsteht.
Das SF-Ereignis des Jahres oder der nächsten Jahre? Für mich der beste Roman von
Simmons, selten habe ich ein Buch so verschlungen. Im SciFi-Bereich gibt es
derzeit wenig wahre Konkurrenz für "Ilium".
Homepage des Autors:
http://www.dansimmons.com/
Homers "Ilias" bei digibib.org
Homers "Ilias" im Projekt Gutenberg
Shakespeares Werke und Sonette im Projekt Gutenberg
Wikipedia über:
Homer
William Shakespeare
Marcel Proust
Michael Birke [23.06.2004]
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