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Malin Schwerdtfeger hat wieder ein Buch geschrieben. Das ist zu loben. Muss man es auch lesen? Nein – das muss nicht sein. Trotzdem möchte ich jeden Mut machen, das Buch zu kaufen. Nicht nur, um die darniederliegende Konjunktur anzukurbeln, sondern weil die Autorin ein wenig verdient, dass sie ein wenig verdient. Doch dazu später.
Ich nehme an, dass sich Frau Schwerdtfeger zumindest teilweise mit ihrer Figur „Linda“ identifiziert. Jedenfalls ist dies die einzige Figur im Buch, die stimmig und mit Herz geschrieben wurde. Eine Mellange aus Genie und Filou, die nahezu zwanghaft die Agierende sein will. Schon, um sich von ihrer Mutter, der Agonierenden, abzusetzen.
Linda: Es kann schon mal vorkommen, daß sich ein Mädchen aus gutem Hause in einen schwul oder doch zumindest schwülstig schillernden Drogenhändler verknallt – es ist vielleicht geradezu zwingend. „Wie konnte das Chaos und die Verwirrung heilig sein, wenn auch die Reinheit und die Abgegrenztheit heilig waren?“ fragt sich die Mutter im Roman. (S.247) Jemand, der sich mit jüdischer Theologie beschäftigt hätte, würde sagen: „Weil sie aus einer einzigen Quelle kommen.“ Aber um Antworten geht es hier nicht.
Die Liebe fällt, wie sie fällt. Auf Steine, Schriften, Schriftsteller oder windige Typen – nie auf Menschen, immer auf Symbole.
Natürlich kann man den Angebeteten dann nicht als das beschreiben, was er schlichtweg ist. Also muss der Mythos weiter bemüht werden. Und den bemüht nicht nur Linda, sondern auch Frau Schwerdtfeger reichlich.
Von norddeutscher Sepultur über griechisches Orakelwesen und eine der vielen jüdischen Glaubensrichtungen kommt sie schließlich zum guten alten Opium.
Da sitzt dann der verehrte Jüngling, der im Buch Francis heißt, und versteht es, denen , die eigentlich viel mehr wissen – und nicht nur Bücherwissen ist hier gemeint – in hochstablerischer Art vorzumachen, dass er allein den echten Zugang in die Mysterien weisen könne. „Die Zeiten des Lorbeerkauens sind vorbei!“ Und Linda, dieselbe Linda, die immer vorangehen will, die seit frühester Kindheit Erfahrungen mit sanftem Okkultismus gesammelt hat, frisst dem Dealer nicht nur das Opium aus der Hand. Dabei verdrängt sie sogar ihren Bruder Robbie, der, obwohl älter, ihr doch zwillingshaft verbunden ist.
„Delphi“ heißt das Werk, und Frau Schwerdtfeger ist auch noch so freundlich, uns zu erklären, dass dies „Mutterschoß“ bedeutet. „Adelphos“ ist im Griechischen der Bruder, der „der aus dem gleichen Mutterschoß kam“. In Delphi als Orakelort saß denn auch die Pythia, die aus einer rauchenden Erdspalte die Weissagungen gebar, die Geschichte initialisieren konnten. Pythia und der sie besiegende Apoll als Beidverantwortliche fürs Orakelwesen sind in Linda und ihrem symbiotisch verbundenen Bruder reinkarniert.
Und während Lindas Archäologen-Vater sich per Spachtel und Pinsel bemüht, der Erde ihre Geheimnisse zu entreißen, sitzt Linda, gerade mal des Schreibens mächtig, schon zusammen mit Robbie am Orakelort und bekommt die Weissagungs-Hexameter als Naturtalent in die Feder diktiert.
Im „Delfin“, einer Kneipe, betrinkt sich Jahre später auch Francis mit Lindas Bruder und diversen Alkoholika, als ihm aufgeht, dass das Geheimnis widersprüchlicher Geschwisterliebe ein Geburtsort für Weisheit sein könnte. Zwischen dem durch die „Adelphoi“ gebildeten Muttermund will er sich mit Hilfe ein wenig Opiums selbst neu erfinden. Er braucht sie beide und benutzt sie, dabei geschickt seine androgyne Ausstrahlung einsetzend.
Frau Schwerdtfeger beschreibt die Kindheits-Orakel-Erfahrungen der beiden Geschwister nur ungenau, lässt sie quasi im delphischen Nebel. Darauf aufbauend arbeitet die Erzählung auf die Neuauflage dieser Orakel-Erfahrung mit Francis und dem Opium höhepunktartig hin.
Aber auch hier: Die eigentliche Geschichte wird nicht erzählt. Der Leser bleibt mit der Frage, was denn nun passiert sei, allein. Nur dass Robbie anschließend gekotzt hat, erfährt man. Das möchte man dann auch.
Dieses Auslassen des mühsam erarbeiteten Höhepunktes mag ein Stilmittel sein – zumindest taucht die Methode im Buch öfter auf: Sowohl bei der Anti-Ausgrabungs-Demo in Jerusalem, wo sich die frömmelnde Mutter plötzlich mit ihren orthodoxen Freunden mitten in einer Hass-Orgie gegen das von ihrem Mann geleitete Ausgrabungsteam wiederfindet und dann durch irgendetwas Undefinierbares so geschädigt wird, dass sie in die Psycho-Klinik muss, als auch im gleichzeitig stattfindendem Missverständnis an einem israelischen Kontrollposten, bei dem Linda angeschossen wird, bleibt das eigentliche Ereignis im Dunkeln: Erzählt wird nur das Vorher und das Nachher. Das Dazwischen muss sich der Leser selbst zusammenreimen.
Wenn nun aber sämtliche Erzählstränge jeweils ihrer Höhepunkte entbehren, wird die Lektüre zuweilen anstrengend. Würde die Substanz der Erzählung diese Anstrengung auch entlohnen, wäre das o.k. Aber da bleibt der Roman leider recht dünn.
Es entsteht der Eindruck, dass die Autorin beim Brainstorming zu viele Symbole und Archetypen gesammelt hat, deren Zusammenspiel sie noch nicht beherrscht, und mit deren gleichzeitiger Verarbeitung sie sich denn doch deutlich übernommen hat.
Viele der Grundideen sind richtig gut, da möchte ich stillsitzen und interessiert der Entwicklung lauschen. Aber in der Verarbeitung hapert es dann, so als ob sich die Autorin nicht genügend Zeit gelassen hätte. Vielleicht entstanden deshalb auch die logischen und Flüchtigkeits-Fehler, die zuweilen richtig wehtun:
Nur mal als Beispiel:
Eine der wichtigen Hintergrund-Geschichten ist diejenige von Jeanne d’Arc. Johanna von der Brücke, bekannt als die Jungfrau von Orleans, spannt dann auch glücklich den Bogen zu den Erzählungen des Rabbi Nachman, den Mutter Schoschana als Guru verehren lernt. Dessen Kernsatz lautet nämlich: „Das Leben ist eine schmale Brücke, aber die Hauptsache ist, sich nicht zu fürchten!“. Derartige Banalitäten machen seine witzigen Koans, wie der vom Getreide, den man schon selbst lesen sollte, aber wieder wett.
Linda jedenfalls schreibt eine Arbeit über Jeanne d’Arc und ist von ihr angetan, dass sie ihre kleine Schwester Pepita, deren Erziehung sie wegen der erwiesenen Unfähigkeit ihrer Mutter in die eigenen Hände nimmt, in einer Art heiligen Handlung dieser seltsamen Heiligen weiht. Nun wäre es angemessen, wenn denn in diesem ganzen Zusammenhang wenigstens die Jahreszahl des berühmten Prozesses in Rouen einigermaßen exakt wiedergegeben würde. Der Prozess fand 1431 statt, das Rehabilitierungsverfahren 25 Jahre später, 1456. Frau Schwerdtfeger kennt aber einen Prozess gegen die Heilige Johanna, der 1462 in Rouen stattgefunden haben soll (S. 27). Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Jeanne d’Arc wohl schon tot gesoffen (ihre stattliche Kneipenrechnung auf Kosten des Orleanser Steuerzahlers findet sich bei Quicherat, Jules: Procés de condamnation et de réhabilitation de Jeanne d' Arc dite la pucelle, Bd. 5 S. 334f).
Überhaupt ist das Ertrinken wohl die schlimmste Form des Sterbens (so Robbie auf S. 214). Folgerichtig lässt Frau Schwerdtfeger ihre anonyme Ich-Erzählerin, eine weitere Schwester, die auch ohne diesen Tod völlig blass bliebe, in der Nordsee absaufen. Sie versucht, dieses Schein-Wesen zum interessantesten Punkt der exzentrischen Familie zu kreieren, zur Gestalt, um die sich eigentlich alles dreht, ohne dass sie wahrgenommen wird. Nur der Held Francis erkennt sie: Inmitten der Ignoranz ihrer Geschwister wird die Erzählerin ein einziges Mal von ihm angeredet: „Du bist immer dabei, nicht wahr?“
Mit dem Schlusssätzen: „Ich muss mich nicht erinnern. Ich bin die Erinnerung.“ soll diesem Ich eine Tiefe gegeben werden, die sie im ganzen Buch nicht gewinnen konnte. Es sei denn, man versteht „Delphi“ nicht nur als Name des Buches inklusive aller bereits angesprochenen Assoziationen, sondern auch als Name dieser Ich-Schwester und ihrer Autorin. In „Delphi“ erzählt letztere ja des Öfteren, wie das Aussprechen eines Orakels nicht nur die folgende Wirklichkeit verändert, sondern auch immer wieder in peinliche Situationen führt. Das Buch selbst ist eine davon.
Es bleibt jammerschade, dass ein so großartiger Entwurf mit wunderbaren Ideen und einem schlüssigen Konzept in der Durchführung dann doch nur zu einem Roman gereicht, den man bestenfalls ältlichen Hausfrauen empfehlen mag. Zu Hoffen steht, dass Frau Schwerdtfeger das in ihr steckende Potential ausreifen lässt. Dazu braucht sie eine Chance. Deshalb: Kaufen sie das Buch, damit die Autorin als Schriftstellerin überlebt!
Reinhard W. Moosdorf
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Danke.
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