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Was neu an dem Nouveau Roman ist, das wird als Negation verstanden. Wenn etwas Neues entworfen wird, dann hat Bestehendes ausgedient oder es taugt nicht mehr. Nichts hat bis dahin stärker die französische Literatur geprägt als der psychologische Realismus mit Balzac an der Spitze. Da gibt es Helden mit einer Innenwelt, eine lineare Handlung, eine ordentliche Chronologie, und alles wird lang und breit kommentiert und gedeutet. Keine Epigonen des 19. Jahrhunderts wollten sie also sein, die Nouveau Romanciers, zu denen auch Nathalie Sarraute und Michel Butor zählen.
Alles was den Traditionalisten bisher lieb und teuer war, gilt es nun abzuschütteln. Was genau das ist, zeigt "Der Augenzeuge", ein konsequent durchkomponiertes und erzählerisch radikalisiertes, großartiges Werk.
Matthias, die zentrale Figur des Romans, ist Handlungsreisender für Armbanduhren. An drei Tagen versucht er mit mäßigem Erfolg seine Ware auf der Insel seiner Kindheit zu verkaufen. Der Verzicht auf eine einfühlsame Charakterisierung der Person - mehr als den Beruf und das ungefähre Alter von Matthias erfahren wir nicht - reduziert ihn auf das, als was ihn der Titel ankündigt: einen Voyeur. Der Blick, das Sehen, das Ausgucken von erotischen Situationen rücken damit in den Vordergrund.
Was sich im Laufe der Tour von Matthias über die Insel und an einer Reihe von immer wiederkehrenden Motiven wie Strick, Möwe und Mädchen entzündet, ist eine Verbrechensgeschichte. Der Tod der kleinen Jacqueline wird im Dorf zwar als Unglück bezeichnet - ein Sturz beim Spielen an der Steilküste, aber "Es könnte ja auch sein, dass man sie gestoßen hat - nicht wahr? -, damit sie fiele ... Sie war sonst sehr helle die Kleine", so ein Einwohner.
Auf Linearität in der Handlung wie auf eine fortschreitende Chronologie wird nur grob durch die Einteilung des Romans in drei Teile geachtet, eingepackt in die Ankunft und die Abfahrt des Schiffes von der Insel. Im ersten und zweiten Teil wird der Tagesablauf von Matthias beschrieben und die Tragödie angekündigt, im dritten Teil wird die Leiche des Mädchens entdeckt.
Das ist wirklich sehr grob, aber es ist auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist jetzt das Wie der Darstellung, weshalb das Angebot an Handlungselementen tatsächlich sehr minimal ist: Matthias leiht sich ein Fahrrad aus, radelt über die Insel, macht Verkaufsbesuche, kehrt in Wirtschaften ein, unterhält sich mit alten Bekannten. Aber die Figuren wirken starr, die spärlichen Dialoge teilnahmslos. Das Sehen und Gesehenwerden bleibt seltsam leblos. Dafür nehmen auf einmal die Objekte und die Räume eine zentrale Position ein.
Was ist geschehen? Wie tut die neue Sprache? Dazu bietet sich erneut eine Kopplung mit dem Titel an. Der Augenzeuge Matthias betreibt nichts anderes als eine streng objektive Bestandsaufnahme der Ereignisse auf der Insel (dem auktorialen Erzähler hat er damit die Feder aus der Hand genommen). Den Figuren wie den Objekten wird so eine tiefere Bedeutung entzogen. Sie sind einfach nur da, so wie sie das Auge sieht. Mensch und Dingwelt werden in einem neuen Verhältnis präsentiert. Zur Beschreibung des Hafens, der Häuser, der Inselwege, der Felsformationen, der Inneneinrichtungen benützt er eine übergenaue, geometrische Sprache. Bezeichnenderweise hat Matthias eine Vorliebe für Zahlen, präzise Zeitabschnitte, Winkelmaße, genaue Distanzangaben, überhaupt geometrische Formen. Sich selber betrachtet er genauso von außen wie alle anderen Figuren. Der Blick auf die weiblichen Gestalten steht unter erotischer, aber ungerührter Hochspannung mit Neigung zu Sadismus - bei soviel Teilnahmslosigkeit, Zahlen und Fakten müssen sich ja Abgründe auftun. "Er sah zu seinen Füßen ausgestreckt die kleine Schäferin, die sich leicht von rechts nach links wand."
Dass es nicht um den Aufbau von Spannung - die dennoch nicht ausbleibt - und das Ausfeilen einer Täterpsyche geht, ist die Idee eines Kriminalromans, indem es keinen Detektiv zur Aufklärung des Verbrechens gibt, das übrigens zwischen dem ersten und zweiten Teil auf leeren Seiten geschieht. Aber es gibt einen Täter. Der blendet seine Täterschaft durch ein stures, gedankliches Wiederholen von Geschehenem (Verkaufsgespräche, abgefahrene Strecken, Gespräche mit Bekannten) und bevorstehenden Abläufen sowie die vermeintliche Beseitigung von Indizien - ein Dorfjunge beobachtet ihn dabei - aus. Dem zeitlichen Loch aber, das er nicht füllen kann, den Dingen und Räumen entgeht er nicht. Schon längst, wären wir die Detektive, hätten wir ihn überführt. Das ist sowohl für den Täter, als auch für den Leser überaus faszinierend. Alles was der Text tut, ist sich an Oberflächen entlang zu arbeiten, nie psychologisiert oder interpretiert er - und das ist eben auch neu.
Textauszug:
"Matthias schritt inmitten des Bündels
grauer Parallelen voran, zwischen der Berührungslinie des Wassers
und der äußeren Brüstung nach der Seeseite - der inneren
Kante der Brüstung, dem von der Fahrbahn und dem Fuß der
Brüstung gebildeten Winkel und dem Rand der geländerlosen
Seitenwand - waagerechten und stracken, aber von Fallen unterbrochenen
Linien, die schnurgerade dem Kai zustrebten."
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Danke.
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