carpe librum -- rezensionen

Annerose ist Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Reinhard, ihr Mann, ist Architekt, macht sich gerade selbständig und alles scheint in bester Ordnung, als sie zum ersten Mal während ihrer gesamten Ehe den Verdacht hegt, daß er sie betrügt. Was hat es mit den Rosen auf sich, die jeden Montag auf der Motorhaube von Reinhards Auto liegen? Wer schreibt die geheimnisvollen Liebesbriefe? Doch das ist alles nur die Spitze eines Eisbergs aus Intrige und gegenseitigen Verdächtigungen, die Annerose für zwanzig Kapitel das Leben schwer machen.

Ständige Unsicherheit darüber, ob Annerose betrogen wird, oder sie nur unter paranoiden Wahnvorstellungen und Neurosen leidet, läßt sie über sich hinauswachsen und Dinge tun, von denen sie nie geglaubt hätte, daß sie sie vollbringen könnte. Sie fängt an Reinhard zu verfolgen, durchwühlt währrend seiner Abwesenheit sein Büro und versucht verzweifelt Indizien zu finden, die ihn entlarven. Natürlich kann ihre Neugierde nicht ewig unbemerkt bleiben und es kommt zum Streit und zur Trennung zwischen den beiden. Plötzlich findet sich Annerose auf der anderen Seite, ist nicht mehr die Jägerin, sondern die Gejagte und steht plötzlich unter Verdacht ihren Mann betrogen und einen anderen umgebracht zu haben. Wie Annerose es am Ende schafft, daß sich das Blatt doch noch zu ihren Gunsten dreht und am Ende alle Personen irgendwie zufrieden sind, wird an dieser Stelle nicht verraten.

Ingrid Nolls Idee, die Romanhandlung an den Bildbeschreibungen von barocken Stilleben auszurichten ist großartig und fesselt einen schier an "Röslein Rot". Zwar taucht die Leiche erst sehr spät in der Geschichte auf, aber bis dahin kann man sich herrlich mit all den Heimlichtuereien, Verwicklungen und Verstrickungen beschäftigen und tief in das Seelenleben der Hauptperson blicken lassen, lernt ihre Familiengeschichte kennen und taucht schon bald in das kleinstädtische Leben der Annerose ein. Diese ganz bestimmt Form von Kleinstadtleben, die Ingrid Noll beschreibt, prägt die gesamte Handlung und Anlage der Personen. Auch wenn man selber dem "Kleinstadtmief" vielleicht entronnen ist, oder ihn nie selber kennengelernt hat, ruft ihn Ingrid Noll zurück und führt ihn, mit einer ordentlichen Portion Augenzwinkern verbunden, dem Leser vor Augen. Einen Bonuspunkt vom Autor dieser Zeilen erhält Frau Noll auf jeden Fall für das Erwähnen der Kleinstadt in der er aufwuchs. "Was soll man in ... auch schon machen außer Lesen!"

Gunnar Michaelsen