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Ein Kriminologe aus Norwegen warnt vor amerikanischen Verhältnissen - und erläutert, warum eine hinter dicken Mauern eingesperrte Anti-Gesellschaft zum Krieg im eigenen Land führen wird
Kriminalität gedeiht in der Anonymität von Großstädten. Ob ein bestimmtes Verhalten als kriminell oder als ehrenhaft gilt, hängt ab von dem jeweiligen Bezugssystem. Es gibt Drogen, deren Handel illegal ist, "während der Verkauf anderer zur Mitgliedschaft in der Handelskammer führt". Auf dieser Einsicht, dass "Verbrechen ein Produkt kultureller, sozialer und geistiger Prozesse" ist, basiert Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?. Nils Christie, Professor für Kriminologie an der Universität Oslo, hat die Besatzung Norwegens durch die Nazis als Kind erlebt. Daher lernte er von frühauf neben dem kleinen Einmaleins, wie wechselhaft das Erlaubte, auch das Ehrenhafte sein kann. Und er weiß um die Dilemma, die sich ergeben, will man gerecht bestrafen (mit Vikun Quisling hatten die Norweger einen Kollaborateur, der sich nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 zum Premierminister ernannte - und der 1945 verurteilt und hingerichtet wurde).
Als Wissenschaftler erhielt Christie die Gelegenheit, sowohl die UdSSR als auch Russland und Weißrussland zu besuchen, Gefängnisse und Rechtssysteme zu studieren, er war auf Kuba, oft in den USA und Europa. Nun fast im Ruhestand präsentiert er in einem recht schmalen und mit seinen Anekdoten äußerst lesbaren Büchlein seine Erklärung für den erstaunlichen Umstand, dass GUS, Weißrussland, die USA und vermutlich Kuba die "großen Kerkermeister" von heute sind - mit jeweils mehr als 500 Häftlingen pro 100.000 Einwohner. Die aktuelle Statistik (Deutschland: 91 pro 100.000, Österreich 85, Schweiz 69, Island 37, Kanada 116) befindet sich ziemlich exakt in der Mitte des Buchs. Christies die harten Fakten einrahmende Erklärung entspricht nicht dem Zeitgeist, ist nicht revolutionär: Sie weist ihn als echten Partisanen der Humanität aus. Alles Parlieren und Begründen wegschneidend, setzt sich seine Erklärung folgendermaßen zusammen: Es ist unser Schicksal, in der modernen Gesellschaft unter Fremden zu leben - was Konsequenzen für die Interpretation von Verhalten hat, ebenso die Härte von Strafen sowie natürlich Verhalten an sich. Moderne Industriegesellschaften sind monoinstitutionell, unumstößlich sind Werte wie Fortschritt, Rentabilität, Konsum, Wachstum. Die einst gebauten Paläste für Gott, Könige, den Unterricht und das Wissen werden heute von Wolkenkratzern und Einkaufszentren überschattet, Palästen für Handel und Kommerz. Geld, so Christie, negiert eine lebenswerte Welt: Bezahlen Sie spielende Kinder dafür, dass sie Türme bauen, und alle Lust an der schöpferischen Tätigkeit wird vergehen. "Die Hegemonie des marktwirtschaftlichen Denkens ist heutzutage so vollständig etabliert, daß sie bis zu einem gewissen Grad unsichtbar geworden ist. Sie ist zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens geworden." Wenn eine Institution in alle anderen Institutionen eingedrungen ist, spricht man von Totalitarismus.
Das Sozial- und Gesundheitswesen - während des Kalten Kriegs auch deshalb in einigen westlichen Ländern gepflegt, um Interesse an Ideologien aus dem Ostblock einzubremsen - hat in solchen Gemeinschaften wenig Platz, seit 1989 kontinuierlich weniger; eng wird es auch für Lehre und Forschung; "kein Geld zu besitzen wird zu einem eindeutigen Indikator dafür, daß das Leben ein Fehlschlag war". Man muss weder Wirtschaftsminister noch Erbsenzähler sein, um zu sehen: an der Arbeitskraft von Menschen besteht in der hochindustrialisierten Gesellschaft nur so lange Bedarf, bis Maschinen oder billigere Arbeitskräfte dasselbe leisten. Der Arbeitnehmer wird zum Auslaufmodell. Die Schere zwischen denen, die mit immer weniger über die Runden kommen müssen und denen, die ihre Reichtümer in abgeriegelten Privatstraßen verschanzen, wächst - und mit ihr die Kriminalität (nicht überraschender Spitzenreiter in Westeuropa: England und Wales mit 139 Häftlingen pro 100.000, gefolgt von Portugal mit 135).
Doch was hat das alles mit Kriminologie zu tun? Die Antworten hierauf finden sich in der auf die Statistik folgenden Hälfte, in der Christie feststellt, dass die Wurzeln der Gefängnissysteme der Spitzenreiter auch in der Sklaverei und Leibeigenschaft zu suchen sind: "Mit der hier und jetzt unvermeidlichen Simplifizierung kann man ohne weiteres sagen, daß die Schwarzen, als sie im Süden befreit wurden und sich auch frei bewegen durften, ihre Plätze im vorderen Teil der Busse einnahmen und nach Norden fuhren, dann in die Innenstädte und von dort aus direkt in die Gefängnisse wanderten". Dass sie hier das Verbrechen erst richtig erlernen, dass sie in der freien Welt draußen als erste verdächtigt und schikaniert werden, begünstigt einen Teufelskreis, der auch mit immer rigoroseren Mitteln und Waffen nicht zu durchbrechen ist. Extrem ungleiche Gefängnispopulationen weisen auf Fehler im System hin - wenn zugleich der Gang ins Gefängnis für ganze Bevölkerungsgruppen zur Norm wird, kreiert das Probleme, die dem Kriegszustand entsprechen.
Schon früher stellt sich - auch Nils Christie - die Frage nach Strafe, dem Zufügen von Schmerz als Vergeltung für das Zufügen von Schmerz. Er gibt sich gar nicht erst mit kleinen Delikten ab, sondern betrachtet Kriegsverbrechen und dem Umgang damit. Christie erinnert, dass in Nürnberg weder von Dresden, den Gulags noch Nagasaki und Hiroshima die Rede war, er weiß, wie unbefriedigend Rache ist, wie unfassbar die Verbrechen der Nazis. Doch Monster gibt es nicht, und so plädiert Christie für Kommissionen zur Wahrheitsfindung, wie sie in Südafrika eingesetzt wurden. Man kann es naiv finden - oder weise - wenn er zugibt, dass es auf Gräueltaten keine guten Antworten gibt, "aber wenn wir zugeben, daß es keine guten Antworten gibt, schaffen wir damit vielleicht die Grundlage, auf der wir den Frieden aufbauen können".
© Matthias Penzel, 2005. Original erschien dieser Artikel in der Frankfurter Rundschau am 20. April 2005 als "Geld negiert die Welt".
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