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Kairo, 1975. Umm Kalsum, die grosse ägyptische Sängerin,
ist tot. Regierungsvertreter aller arabischen Staaten nehmen am Begräbnis
teil. Keine Strassenbahn fährt mehr. Die Stadt ist leer. Das ganze
Volk ist zum Aufbahrungszelt gepilgert, wo Umm Kalsums Leichnam in einem
Sarkophag der Prozession harrt. Polizeiketten sperren den Weg ab. Auf Holzstangen
gehievt erscheint der Sarkophag auf den Schultern der Träger, gefolgt
von den Regierungsvertretern und den letzten lebenden Freunden der Sängerin.
Da bricht in der Masse Unruhe aus, ein Tumult so stark, dass, obschon die
Polizisten mit Knüppeln auf die Leute einschlagen, die Abschrankungen
alsbald gesprengt werden. Die Entfesselten rennen auf den Sarkophag zu,
reissen ihn an sich und reichen ihn über ihren Köpfen weiter:
Getragen von Tausenden von Händen tanzt er "wie ein kleines trunkenes
Boot" über dem Menschenstrom durch die verstopften Avenuen der
Moschee entgegen. - Eine schiere Hundertschaft schwarzer Limousinen soll
das Begräbnis von Maria Callas passiert haben, ein solcher Ausbruch
aber konnte nicht geschehen, denn die klassenspezifische Trennlinie zwischen
hoher und niedriger Kunst existiert im arabischen Raum so nicht; die klassische
Sängerin Umm Kalsum hat alle Schichten angesprochen. Das hat auch
mit ihrer Herkunft zu tun, mit ihrer Geschichte. Packend und einfühlsam
erzählt sie Sélim Nassib (*1946 in Beirut, seit 1969 in Paris)
in seinem Roman Stern des Orients aus der fiktiv angereicherten Sicht von
Umm Kalsums Lieblingsdichter Ahmad Rami, der die Texte von fast der Hälfte
ihrer 283 Lieder geschrieben hat.
Aus dem Studium in Paris nach Kairo zurückgekehrt, hört Rami an einem Abend einen Beduinenjungen in einem kleinen Theater einen Text singen, den Rami vor seiner Abfahrt nach Europa verfasst hat. Dieser Umstand, aber auch die Stimme des Jungen treffen den Dichter im Innersten. Bald schon stellt er sich dem Vater des Sängers vor, wird eingeladen und realisiert, dass der Junge in Wahrheit ein Mädchen ist und die Verkleidung nur trägt, weil ein singendes Mädchen den strengen moralischen Vorstellungen dieser Scheichsfamilie nicht entspricht.
Umm Kalsum stammte aus Tamaj-el-Zaharia, einem kleinen Dorf im Nil-Delta. Der Vater verbot ihr zu singen. Nur ihr Bruder durfte die heiligen Koran-Gesänge lernen. Die Kleine aber lauschte verbotenerweise an der Tür, sog jedes Wort, jeden Intervall ein, als wäre es ihr Lebenselixier. Das Erhorchte entwickelte sie weiter und trug es hinaus. Ihr Talent liess sich nicht im Sand der Fremdbestimmung ersticken. Erst mit 27 Jahren jedoch sollte sie ihre Verkleidung und damit die väterliche Bevormundung abschütteln. Umm Kalsums Aufstieg war kometenhaft: von der Stimme aus dem kleinen Dorf zur Stimme Kairos, dann zur Stimme der Monarchie in den 30er, 40er Jahren, dann zur Stimme der Revolution unter Nasser in den 50ern und schliesslich zur ersten Stimme der Identifikation ganz Arabiens. Dieser Erfolg hing mit ihrer Gabe zusammen, kollektive Ekstasen auszulösen. Die Passagen in Nassibs Roman, die ihren Konzerten gewidmet sind, lassen die Leserinnen und Leser die Atmosphäre nachvollziehen, die im Saal herrscht, wenn Umm Kalsum singt: "Der ganze Saal zog das Jackett aus, krempelte die Gallabija hoch. Ihr Idol würde nun die Bedrängnis aller gleichsam aus sich herausschwitzen und schweissgebadet ihre Not freilegen. Sie wusste, jetzt wich das arabische Volk nicht vom Radiogerät, die Strassen waren verlassen, die Herrschenden enthielten sich tunlichst jeglicher Erklärung, denn ihre Untertanen hatten in dieser Nacht nur ein Ohr für sie. Nach Mitternacht spielte ihr Ruhm jedoch keine Rolle mehr. Der Atem, der Geruch der Männer, die sie vor sich sah, genügten ihr völlig. (..) Ihr Körper überliess sich der Trance, weil sie nur so das Leben spüren konnte. Und was für ein Leben! Bestehend aus einem erregenden Gefühl im Bauch, dem Rausch, die eigene Stimme zu hören, und den Liebeserklärungen, die man ihr als Gegengabe zuschrie, mit denen sie regelrecht überschüttet wurde. Nur in einem Raum, in dem das Licht alle Dinge an die Wand drückte, konnte sie ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit einschläfern. Ihre Augen waren dann halb geschlossen, sie warf alles von sich und liess sich bis zum Morgengrauen freien Lauf."
Ramis Beziehung zu der Sängerin jedoch ist die einer lebenslangen unerfüllten Liebe, unerfüllt deshalb, weil Umm Kalsum Frauen liebt. Und trotzdem mag Rami nicht von ihr lassen, und sie weiss um die ruinöse Macht, die sie auf ihn ausübt: "Er ist mein Dichter. Er verbrennt, um mir auf meinem Weg zu leuchten."
Nassib erforscht in seinem Roman auch die Zusammenhänge zwischen politischer Macht und Kunst; dabei zeichnet er ein schulbuchfernes und dennoch nicht unkritisches Nasser-Bild. Pessimistisch blickt er auf die Veränderung Ägyptens im Zeichen der Modernisierung: "In diesem Land ist Licht und Schatten nah beieinander, mit einem Bein stehen wir in der Vergangenheit, mit dem anderen sonstwo." Auch macht er rollenspezifische Verhaltensmuster im arabischen Raum transparent, wenn er Umm Kalsums Karriere oder das ägyptische Frauenleben reflektiert. In allen Punkten gewinnt Nassibs Roman seine Stärke aus der Innensicht der arabischen Lebenswelt; kein Europäer hätte dieses Buch so schreiben können. Westliche Leserinnen und Leser begreifen, dass diese Lebenswelt eine völlig andere, aber keineswegs minderwertige Kultur hervorgebracht hat. Gerade deshalb möchte man dem Buch nicht nur Rezipienten wünschen, die ein Interesse an orientalischer Musik oder der ägyptischen Geschichte bereits mitbringen, sondern gerade Leserinnen und Leser, die kein Verständnis für all dies aufbringen und etwa glauben, der Maghreb stecke voller Fundamentalisten. Denn die Binnenperspektive von Nassibs Roman verstattet Einfühlung, Einsicht in uns Fremdes. Nassib hilft verstehen, und auf Brücken dieser Art ist unsere Gegenwart schlichtweg angewiesen.
Florian Vetsch
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Danke.
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