Birger Klonovsky

ich will kein inmich mehr sein

Sach. Kiepenheuer und Witsch Verlag, 240 Seiten. ISBN: 3-462-02463-9

Birger  Klonovsky: ich will kein inmich mehr sein

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"ich bin ohne sprache nichts" - eine Aussage, wie sie - zumal aus dem Munde eines Schriftstellers - wenig außergewöhnlich zu sein scheint. Hier jedoch ist die Rede von einem, der Sprache, als das elementare Medium der Kommunikation, erst im Alter von 17 Jahren erlangt hat, obwohl er seit seinem fünften Lebensjahr lesen und schreiben kann: dem Berliner Autisten Birger Sellin. Mehr oder minder zufällig kam er mit der einzigen Technik in Berührung, die ihm die Anwendung von Sprache ermöglicht und damit sein Leben entscheidend verändert hat.

Sellin galt bis 1990 als unheilbar geisteskrank - und debil. Seit frühester Kindheit stumm und schwer verhaltensgestört, gänzlich in sich zurückgezogen, unfähig, sich irgend mit seiner Umwelt auszutauschen, beherrscht von unkontrollierbaren Zwangshandlungen wie Schreianfällen oder autoaggressiven Ausbrüchen: war er tatsächlich nicht: "es ist wie lebendig begraben sein die einsamkeit eines autisten es ist wie ein wuchernder erdklumpen auf der seele". Seither kann er sich mit Hilfe der FC-Methode (facilitated communication, gestützte Kommunikation), bei der eine Vertrauensperson den Schreibarm leicht stützt, schriftlich äußern - mit nur einem Finger die Tastatur eines PCs bedienend.

Das Rezensieren der dabei entstandenen Texte gleicht einem Drahtseilakt: Es gibt nichts, was vergleichbar wäre; Sellin ist bisher der einzige nicht ‚geheilte‘ autistische Autor. Man bleibt notwendig befangen im Widerspruch zwischen dem äußeren Erscheinungsbild eines vermeintlichen Irren und den Innenansichten eines Menschen, dessen Einsamkeit maßlos ist. Das hat Konsequenzen: "ohne irrtum kann niemand ueber uns aussagen machen".

Wer hofft, Sellins Texte in den Literaturabteilungen des Buchhandels zu finden, sucht meist vergeblich: Die Schriften gelten (noch) als ‚Sachbücher‘. Ein Urteil darüber abzugeben, ob dies als Literatur zu gelten habe oder nicht, fällt hier besonders schwer. Einfach machte es sich Der Spiegel, der den Berliner bei Erscheinen seines ersten Buches euphorisch - und sensationslüstern - als "erste[n] autistische[n] Dichter der Welt" (35/93) feierte, um fünf Monate später - aus ähnlichen Motiven - seine Urheberschaft in Frage zu stellen (5/94). Sellins "Sprache der Qual" sei nach Artaud und Hölderlin nicht mehr gehört worden; Michael Klonovsky, der Herausgeber, fühlte sich obendrein an Nietzsche oder gar altnordische Versepen erinnert - mit solch ungelenker Suche nach einer passenden Schublade wird man weder dem Autor noch seinen Texten gerecht.

ich will kein inmich mehr sein dokumentiert lückenlos die mühsamen Anfänge von Sellins ‚Schreibzeit‘, die ihre Faszination in erster Linie den Umständen der Entstehung verdanken und Zeugnis ablegen von der unbeschreiblichen Anstrengung, die die Niederschrift gekostet haben muß. Der Leser erlebt die ersten Kommunikationsversuche zwischen dem Autisten und seiner Familie, vornehmlich mit der Mutter. Die Sprache selbst ist eigentümlich ursprünglich - und authentisch: der Autor kann und will gar nicht anders: "unsere sprache klingt [..] aus tiefen der einsamkeit / sie ist wirbelnder totaler erster anfang". Trotz der abgegriffenen Metapher: Hier wird jedes einzelne Wort buchstäblich geboren, ausgeschwitzt.

Literatur im eigentlichen Sinne ist dies deswegen noch nicht; die Texte sind anfänglich nur für den jeweiligen ‚Gesprächspartner‘ bestimmt, haben den - dennoch nicht alltäglichen - Level von Alltagsgesprächen. Der Autor macht sich nichts vor: "quatsch ist ich sei ein irrer ohne verstand / ich bin ein irrer mit verstand was noch schlimmer ist / quatsch ist ich sei ein ausgezeichneter dichter / ich dichte nur käse mit soße und die schmeckt nicht".

Der Gedanke an eine Veröffentlichung entsteht zum ersten Mal im Oktober 1991, frühestens seit diesem Zeitpunkt schreibt er mit dem Wissen um - und damit für - eine erheblich erweiterte Leserschaft, wird vom ‚Gesprächspartner‘ zum Autoren: "einfach ein wirkliches denkanstoßbuch in einer schönen form an der man einfach sieht ich will teilhaben am wirksamen weiten leben". Diese Motivation ist nicht zu unterschätzen, da Sellin explizit aufklären, Einsichten aus dem autistischen Leben vermitteln will. Klonovsky ist der Ansicht, die Publikation als solche bleibe vor dem Hintergrund von Sellins Leiden "natürlich stets ein zweitrangiger Vorgang". Der Herausgeber, der mit seinen erläuternden Anmerkungen ohnehin nicht gerade eine Glanzleistung vollbracht hat, irrt jedoch. Einer der zentralen Beweggründe für Sellins Schreiben ist eben dieser Wunsch nach Mitteilung: "ich wünsche mir so sehr allen mitteilen zu können wie ich mich in meiner autistischen mauer fühle".

Mit der Chance, ein größeren Leserkreis zu erreichen, kristallisiert sich der Anspruch immer deutlicher heraus, über die ‚alltägliche‘ Kommunikation hinaus. Die Texte sind nach wie vor - bis auf sehr wenige Ausnahmen - nonfiktional: der Versuch, Erleben unmittelbar in Sprache zu transformieren: "sie anerkennt nicht solche falschen redewendungen weil sie ohne effekthascherei umsetzt was in der seele lebt".

Die Qualität und Differenziertheit der Aussagen hat Sellin immer weiter steigern können, bis hin zum (vorläufigen) Höhepunkt in ich deserteur einer artigen autistenrasse. Sein eindrücklicher Stil - allein die Form, die Kleinschreibung und das Fehlen der Satzzeichen, erinnert ständig an die außergewöhnliche Schreibsituation - ermöglicht Einblicke in eine Welt, in die die (für uns) gewöhnlichsten Vorgänge mit chaotischer Wucht ungebremst und ungefiltert einstürzen.

Während bei einem "‚normalen‘ Intellektuellen-Schriftsteller" (Klonovsky) der Schreibprozeß gemeinhin im Verborgenen bleibt, alle Zweifel und Anstrengungen dem späteren Produkt meist nicht mehr anzumerken sind, wird eben dies hier geschildert. Gerade das Scheitern zieht sich begleitend durch eine Vielzahl der Texte: "ich eimerweise ohne ausdruck fuer alles was ich denke dass tut mir am wehesten ich einer den man als den autistischen dichter bezeichnet bin wieder sprachlos". Den Unterschied zu anderen Schriftstellern beurteilt er selbst auf seine ganz eigene Weise: "einer wie ich weiss mehr aus dieser wirklichkeit als weltenbekannte dichter / denn ich lebe in diesen welten". Die Ansprüche an sein Schreiben sind dementsprechend hoch: Er will auch Dichter werden: "ich will einmal zeigen / wie ich ein leiden wirksam umwandle in kunst".

Auf dem Wege zur angestrebten Selbständigkeit hat Sellin gemessen an der Schwere seiner Behinderung bereits enorme Hürden bewältigt, trotz mancher Rückschläge. Der Erfüllung seines Wunsches, "ein wirksamer dichter / ein sogenannter literat [...]" zu sein, ist er mit seinen gerade 23 Jahren bereits ein erhebliches Stück näher gekommen.

Heide Kuhlmann






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