Ilse Kilic; Fritz Widhalm

Zwischen Zwang und Zwischenfall. Des Verwicklungsromans vierter Teil.

Kunst; Roman. edition ch, Wien. 100 Seiten. 12.00 EUR . ISBN: 3-901015-28-0

Was der Fall ist, entkettet oder Die antiautobiografische Autobio
Ilse  Kilic; Fritz  Widhalm: Zwischen Zwang und Zwischenfall. Des Verwicklungsromans vierter Teil.

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"Das Gesetz des Buches ist das des völlig abgenutzten reflektiertesten, ältesten klassischen Denkens, das der Reflexion: Das eine, das zwei wird." (Gilles Deleuze/Félix Guattari)

Wenn das Leben eine Kette von Zwischenfällen ist, deren vermeintlich notwendige Aufeinanderfolge nur nachträglich interpretiert wurde, darf man nicht nur getrost bei einem vierten Teil zu lesen beginnen (und vier Bücher sind ja nun einmal auch nicht eines), dann darf man auch über einen isolierten Teil schreiben, ohne die anderen gelesen zu haben. Das gilt es natürlich zu begründen, jedenfalls wo scharfsinnige Leserinnen und Leser zu erwarten sind, die den literarischen und atmosphärischen Kontext Kilics und Widhalms kennen. Sie sind die Erfinder und Schreiberinnen ihrer Alter Egos Jana und Naz. Denn zu einfach und zugleich zu komplex würde es anmuten zu behaupten, Jana und Naz erzählen die Autobiografie von Ilse und Fritz. Es handelt sich bei dem offenkundigen Lebenswerk vielmehr um eine - im Gegensatz zur Deleuze/Guattarischen Zweistimmigkeit - einstimmige, fiktive Autobiografie aus dem Zeitgeist zweier in den Endfünfzigern Geborenen, die Zeugnis ablegen vom Lebensgefühl in den 60ern, 70ern usw. bis heute, je aus den memorierten Memorierungsperspektiven der kleinen, jugendlichen, und später auch großen Protagonisten.

Man darf also behaupten, sich einer diachronen Lesart entziehen zu dürfen, ohne die anderen Teile gelesen zu haben. Sie mögen den Entzug zwar geradewegs legitimieren, indem etwa Fritz Widhalm den Leser über die wahre Identität des Naz als Fiktion und Naz über die wahre Identität des Naz als Fiktion (und auch: Fritz als Fiktion) an der Nase herumführt. Biografische Schreibe wird dementiert. Nur, dass es Autoren gibt, die sie vorgeben und dabei das glatte Lügen nötig haben, ist ein Tatbestand. Man ist auf deren Verstellungswillen und ihr Verstellungspotenzial angewiesen und darauf ihnen zu glauben, solange sie glaubwürdig lügen und keine Wissende kommt und die Erfindung von Indizien wie das verdrehte Einander-in-den-Mund-Legen-von-Aussagen beweist (falls es sich um keine Epitexte und Epiinszenierungen handelt, welche die Regeln des Kunstwerks in sich tragen, dann wird die Sache schwieriger, dann bestelle man sich einen waschechten Dekonstruktivisten, welcher der Wissenden zuarbeitet). Ilse Kilic und Fritz Widhalm inszenieren nicht nur glaubwürdig, sondern sind es auch. Grund genug ihnen zu glauben. Doch halt! Man muss aufpassen: War es der Naz oder der Fritz, der darüber sinnierte? Es war die Fiktion Naz, und also haben Ilse und Fritz nicht gelogen, falls sie ihm Unwahrheit in den Mund gelegt haben, die Fiktion der Fiktion ....

Auch der vierte Teil liefert ein Indiz für die Autobiografie als Anti-Autobiografie. Hier ist es Jana, die vor simplen Leser-Schlüssen warnt. Sie überlegt, ob ihre kleine Teenie-Lunge das erste Mal im Urlaub, auf dem Schüler- oder gar dem Lehrerklo durch den Genuss eines Tschiks aufgeheizt worden war oder ob, was auch immer davon der Fall gewesen sein mag, dem widerspräche, was Ilse (oder Naz?) über Jana in einem anderen Teil des Romans zum Geschriebenen gegeben hat.

All das mögen wichtige Indizien sein. Doch nicht einzeln, sondern als Kettenglieder in summa zeugen sie von der strukturellen Konstruiertheit. Das gilt schon für jeden Teil des Verwicklungsromans. Kein Anspruch auf Geschichtsschreibung: So wie man erinnert und wie eben nicht, wird geschrieben, gesprungen, ins Zurück und wieder ins Jetzt, nehmen die Autoren wie Figuren auch redundante Erzählstränge in Kauf, die keine sind, weil nämlich mögliche Welten, machen sie ausdrücklich Fehl-Erinnerungen geltend - oder inszenieren, sie als solche geltend zu machen. Dabei gibt es ein kleines Bild, das auf das große verweist und außerdem verdächtig ist: Naz trägt eine anti-chromatische, kryptische Zahlenreihe im Notizbuch mit sich herum, von der er beiläufig erklärt, es handele sich um das Schnittmuster eines Super 8-Films. Die Synekdoche verweist auf den gesamten Verwicklungsroman.

Form follows function oder vice versa

Auch das, worum es im vierten Teil eigentlich geht, fügt sich jenem Prinzip. Nach der Lektüre ist es nicht mehr um eine Entwicklung gegangen als um berichtete Zwischenfälle; zwischen Fällen eingefallene, flugs erzähle Fälle quasi, die sich um Themenkomplexe ranken: die erste Liebe, der erste Sex, erste Tabus, Identitätsinfragestellungen (nationalitätsbezogen und geschlechtlich); Janas erzwungene Emanzipation vom Vater (oder umgekehrt), der schließlich, alt und krank, im Pflegeheim landet; des Naz Abschaffen der Arbeit; Naz Wehrdienst – und dann Haft-Tauglichkeitsprüfung; das Einfädeln unerwünschter Zwischenfälle durch denselben als Folge jenes Falls „Wehrdienstzeit“, die man getrost besser als Zwischenfall bezeichnen darf, war sie doch gar nicht geplant, usw. So halten es die zwei.

Oder vier: Gesetz der Reflektion als die zweier, welche viere werden. Nicht nur, dass solches Buch an einen Baum gemahnt, mit Ästen, die nach oben und unten wachsen und seitlich als Sackgässchen und als sich windender Stamm immer brav gegen die Sonne; auch die formal umgesetzte Identitäts-Relativierung erinnert an Deleuzes/Guattaris Rhizom: "Ich bin wir" gilt für den Erzähler bzw. die Erzählerin. Eine Erzählperspektive wird von zwei Personen geschrieben. Zwecklos zu grübeln, wer was geschrieben hat, Ilse oder Fritz: Jana erzählt nicht in der Tradition von George Perec (bei entsprechenden syntaktischen Merkmalen würde man Kilic postulieren), und wenn einer "huch!" ruft, so mag das für den Naz stehen, doch nicht für einen "huch"-schreibenden Autor Fritz (sodass der Leser an Widhalms Buch "Huch" denkt). Zwecklos eruieren, ob Naz oder Jana gerade erzählt und von Jana oder Naz erzählt.
Die wirklichen Autoren halten die Performanz auch in den Epitexten durch: Es werben für Lesungen, ihre Bücher, das Fröhliche Wohnzimmer mitunter "Ilfri" oder "Frilse"; und, erraten, es gibt die Wir-sind-ein-Subjekt-Konstruktion auch als "Janaz". Auf zeichnerischer Ebene illustriert Günther Kaip Verschmelzung und Lösung mit poetischen Wort-Bild-Kombinationen.

Was der vierte Teil des Verwicklungsromans also deutlich zeigt, sind Verweigerungszwänge der inhaltlichen Art mit ihrem Komplement auf struktureller Ebene: Schreiben als fiktive Diachronie, Verweigerung der singulären Subjektivität und damit die Wirklichkeit als nur konstruierte auch in Wirklichkeit: Bitte einen Schuss Unordnung in die symbolische Ordnung! Sie ist nämlich nur symbolisch! Sie ist nur symbolisch! - versteht Ihr die Tragweite? Also so, dass es wirklich irritiert* und ordentlich wackelt!

Marietta Böning

* Daniel Wisser hat sie bei der Einführung einer Lesung von Kilic/Widhalm im Juli 2005 derart irritiert, dass er die Performanz "wahnsinnig" nannte. Das zeigt: Die Dramaturgie funktioniert über die Maßen ausgezeichnet.






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