Mo Hayder

Tokio

Krimi. Goldmann, München. 415 Seiten. 19.90 EUR . ISBN: 3442310180

Beklemmend: Der Teufel geht um in Nanking
Mo  Hayder: Tokio

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Ein unaussprechliches Geheimnis treibt die englische Studentin Grey nach Tokio. Hier hofft sie, den Schlüssel zu einer Tragödie zu finden, die die seit Jahren verfolgt. Ein Filmausschnitt, der Gräueltaten japanischer Soldaten im chinesischen Nanking 1937 zeigt, soll die Lösung des Rätsels enthalten. Doch der Besitzer des Films, ein chinesischer Wissenschaftler, ist nur unter einer Bedingung bereit, ihr die Bilder zu zeigen: Grey soll ein Elixier auftreiben, das sich in den Händen des einflussreichsten und gefährlichsten Mannes von Tokio befindet. Grey kann nicht ahnen, dass die Geschichte dieses Elixiers eng mit ihrer eigenen Tragödie verknüpft ist – eine blutige Spur von 1937 bis heute. (abgewandelte Verlagsinfo)

Die Autorin
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Mo Hayder wurde in Essex geboren, verließ mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen, und hat später viele Jahre im Ausland verbracht. Dabei lebte sie u.a. in Japan, wo sie als Hostess in einem Tokioter Nachtclub arbeitete. Mit ihrem Romandebüt, dem Psychothriller „Der Vogelmann“, wurde sie zur Bestsellerautorin. Diesem Buch folgte „Die Behandlung“, ebenfalls ein Psychothriller mit Detective Inspector Jack Caffery.

Sie hat Creative Writing studiert und unterrichtet gelegentlich auch an ihrer alten Uni, der Bath Spa University. Hayder lebt als freie Schriftstellerin mit Lebensgefährte und Tochter in London. Sie arbeite gegenwärtig an ihrem vierten Roman, schreibt der Verlag Random House.

Handlung
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PROLOG. Ein Mann schreibt am 21.12.1937 in sein Tagebuch über die Gräueltaten, die in Nanking, der Hauptstadt Chinas, von den japanischen Invasoren begangen worden sind. 300.000 Menschen wurden von ihnen massakriert, aber das war noch nicht das Schlimmste. Das, was ihm selbst und seiner Frau zugestoßen ist, ist unendlich schwer in Worte zu fassen. Der Kameramann, der alles gefilmt hat, starb von der Hand des Tagebuchschreibers, der ihm den Film aus der Kamera nahm und ihn in Sicherheit brachte. Für jenen Tag, an dem er Gerechtigkeit erhalten würde.

Haupthandlung.

Tokio im Jahr 1990. Grey – so lässt sie sich zumindest nennen – steht nach neun Jahren und sieben Monaten endlich vor dem Ziel ihrer Wünsche: vor dem Eingang der berühmten Todai-Universität in Tokio. Hier besucht sie Professor Shi Shon-ming, der hier eine Gastprofessur für chinesische Heilkunde innehat. Der Professor ist erstaunlich klein und schon über 70, aber erstaunlich willensstark. Sie hat keine Umgangsformen: Sofort kommt sie auf den Anlass ihres Besuches zu sprechen: das Massaker von Nanking anno 37. Sofort schließt der Prof alle Türen und Jalousien und flüstert nur noch – aus Vorsicht vor den japanischen Nationalisten. Die schweigen diese Kriegsschuld nämlich tot.

Grey insistiert: Shi Shonming hat ein Buch und laut einer Fachzeitschrift auch einen Film über die Gräueltaten der Japaner. Den Film will sie unbedingt sehen. Sie sucht Bilder von einer besonderen Foltermethode. Den Grund nennt sie ihm nicht, und so wimmelt er sie ab.

Nach einer Übernachtung im Park wird Grey von einem Amerikaner begrüßt, der sich Jason nennt und sie einlädt, in seinem Haus zu wohnen, fast kostenlos, behauptet er. Das Haus ist uralt und noch aus Holz gebaut, ringsum umgeben von Betonburgen und zum Abriss bestimmt. Ein Flügel ist komplett abgesperrt – sehr geheimnisvoll. Aber der Garten ist wunderschön. Zwei Russinnen wohnen neben Jason; er nennt sie die Baba-Yagas. (Die Baba-Yagá ist eine alte Hexe aus russischen Märchen.) Sie geben der unbedarften Grey ein paar Tipps.

Um ihre Miete zu zahlen, soll sie als Hostess in einem Nachtklub namens „Some like it hot“ arbeiten. Nichts Sexuelles, sondern lediglich Animation zu erhöhtem Alkoholkonsum, you understand? Der Klub liegt im 50. Stocker eines Wolkenkratzers. Mama-san heißt Strawberry Nakatani, sieht aus wie die Monroe und war früher mal mit einem Gangster liiert. Wie sich herausstellt, kann Grey nicht nur animieren, perfekt Japanisch sprechen und lesen, sondern auch mit einem Geschichtswissen aufwarten, das seinesgleichen sucht. Die japanischen Kunden hängen an ihren Lippen, als sie von nanking 1937 erzählt, ihrem Spezialgebiet. Ihre Vater und Großväter hatten sie nie darüber aufgeklärt, was sie in China eigentlich machten. Grey bekommt ein dickes Trinkgeld.

Eines Tages kommt der Gangsterboss Fujuki in den Klub. Umgeben von sechs Gorillas und einer Krankenschwester wird er in seinem Rollstuhl hereingefahren, ein uralter, kleiner Mann, wie eine lebende Mumie. Selbstredend erhält er eine Vorzugsbehandlung: Er ist der Kopf der lokalen Yakuza-Mafia, ein Ojabun, und somit der mächtigste Mann in der Stadt. Selbst Mama-san schlottern die Knie. Später erzählt sie Grey ein paar Gräuelgeschichten über Fujukis Yakuza.

Grey hat das Kanji-Schriftzeichen auf der Visitenkarte des Mannes erkannt: Es ist das Zeichen für „Winterbaum“. Wie poetisch, findet sie. Er ist darüber erstaunt. Sie beobachtet, wie er einen Hustenanfall hat, aber die herbeigeeilte Krankenschwester – sie heißt Ogawa – ihm sofort ein Stärkungsmittel verabreicht. Es ist bräunlich und hinterlässt im Glas einen dunklen Satz. Was mag es wohl sein, fragt sich Grey.

Wochen vergehen, ohne dass sich Prof Shi zu einer Kooperation bereiterklärt. Da endlich kontaktiert er sie, in ihrem Domizil, geht in den Garten, bewundert die alte japanische Tradition. Er gibt der jungen Frau ein Geschenk als Warnung: Aus einem Origami-Kranich springt ein roter Drache, der sie in Panik versetzt. Er lacht. Das könne passieren, wenn man die Vergangenheit wecke. Man müsse ihr mit Respekt begegnen. Er sucht ein Stärkungsmittel, das ein bestimmter Mann besitzt, um es industriell herstellen zu können. Dieser Mann sei Fujuki. Nur sie, Grey, könne mit Fujuki sprechen, er, Shi, aber nicht. Sobald sie ihm, Shi, sagen kann, woraus das Tonikum besteht, wolle er ihr den gewünschten Nanking-Film zeigen. Aber Fujuki darf nie von Shi Shon-ming erfahren.

Sie ist einverstanden. Sie ahnt nicht, dass dieser Auftrag lebensgefährlich wird. Und nicht nur für sie, sondern für alle, die sie kennt. Aber Prof. Shi weiß nicht, dass auch Grey ein dunkles Geheimnis hütet…

Unterdessen nähert sich das Tagebuch des Mannes in Nanking (in der Parallelhandlung) seinem Ende. Es ist der 21.12.1937. Er hat alles verloren, was ihm auf der Welt lieb und teuer war: seine Frau, ihr ungeborenes Kind Mondseele, das Haus, die inzwischen verwüstete Stadt, die Regierung von Tschiang Kai-schek, den Glauben an die Macht der Vernunft. Etwas anderes wurde ihm statt dessen gegeben: Er weiß jetzt, dass nun, da die Vernunft abgedankt hat, der Teufel, der Yangwangye des Volksglaubens, existiert. Und er geht in Nanking um und verrichtet sein Werk.

Mein Eindruck
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Drei Menschen scheint das Schicksal (= Autorin) auf verhängnisvolle Weise in Japans Hauptstadt zusammengeführt zu haben. Grey sucht die Antwort auf die Frage nach ihrer persönlichen Schuld und Verantwortung am Tod ihres Ungeborenen. Der diese Antwort geben soll, ist der Besitzer eines Filmes aus dem Jahr 1937, als Ungeborene in Massen von einer bestimmten Person auf grausame Weise getötet wurden.

SPOILER

Dieser Mann ist Prof. Shi Shonming. Auch er macht sich seit 53 Jahren schwere Vorwürfe, dass er nicht auf seine Frau gehört und sofort die Stadt verlassen hat, als die Japaner noch vor den Toren Nankings standen. Aber er vertraute auf Regierung und Streitkräfte, die beide versagten. Sein Rationalismus erwies sich als wertlos, der Volksglaube – vielleicht auch der Überlebensinstinkt - seiner Frau enthielt die Wahrheit. Seine Entscheidung kam viel zu spät. Auch sein Ungeborenes musste sterben, und er selbst spielte eine verhängnisvolle Rolle bei seinem Tod.

Was Grey wissen will: Kann Unwissenheit das Gleiche sein wie Verderbtheit? Sie beging ihre Tat aus Unwissenheit – war das pervers und verderbt? Welche Schuld lud Shi für seine Tat auf sich? Und beging „der Teufel“ seine Taten aus Verderbtheit oder aus Unwissenheit? Denn was er suchte, fand er nicht: körperliche Heilung. Das Mittel, das er sich nahm, hatte nur einen Placeboeffekt – er war medizinisch unwissend. Und er blieb bei seinem Unglauben bis zum Tag seines Todes.

SPOILER ENDE

„Kann Unwissenheit das Gleiche sein wie Verderbtheit?“ Dies ist die wichtigste Frage, die sich zwei der drei Figuren stellen, die schicksalhaft miteinander verstrickt sind. Die Antwort nach der Natur und der Beurteilung des Bösen fällt ganz unterschiedlich aus. Doch es gibt eine andere Figur, die eindeutig böse erscheint: Fujukis Krankenschwester Ogawa wird von Prof. Shi als die „Bestie von Saitama“ bezeichnet, und wie sich zeigt, trifft diese Bezeichnung völlig zu.

Ogawa – es ist nie klar, ob sie eine Frau oder ein Mann ist – kennt wie ein reißendes Raubtier keinerlei Skrupel, wenn es um die Wiederbeschaffung des gestohlenen Stärkungsmittels ihres Herrn geht. Sie sucht lediglich die Beute, ganz egal, wer dabei auf der Strecke bleibt. Jason bekommt dies am eigenen Leib zu spüren, und Grey entgeht Ogawas todbringender Suche nur um Haaresbreite. Selbst Mama-san Strawberry schlottern die Knie, wenn sie Ogawa ansieht, nur Jason scheint solche Angst – zunächst jedenfalls – nicht zu kennen. Er wird eines Besseren belehrt.

Die Spannung steigert sich also bis zum Unerträglichen, und zwar sowohl in der Haupthandlung um Grey wie auch in der Parallelhandlung um die Geschehnisse in und um Nanking. Die häppchenweise verabreichten Dosen an Wahrheit und Enthüllung haben nun eine kritische Masse erreicht, so dass sich der imaginative Leser bzw. Hörer schon ungefähr ausrechnen kann, wie die beiden Handlungsstränge fortgeführt werden. Und endlich ist auch ein Punkt in beiden Handlungen erreicht, an dem das zunehmend angespanntere Warten und Argumentieren in Aktion umschlägt, die dann –endlich – die Entscheidung herbeiführt, zum Guten oder zum Schlechten.

Doch dies ist noch nicht der Gipfel der Erkenntnis. Denn Grey hat Shis Film immer noch nicht gesehen. Als sie die alten Bilder aus dem Dezember 1937 endlich zu Gesicht bekommt, werden die beiden bislang getrennt vorangetriebenen Erzählstränge eins und gehen ineinander über. Es ist wie eine schmerzvolle Erlösung von Ungewissheit, vielleicht Unwissenheit, und der Weg, den Grey und Shi nun gehen müssen, liegt deutlich vor ihnen: Die Wahrheit über das, was damals geschah, muss der Welt mitgeteilt werden. Erst dann wird den beiden getöteten Ungeborenen und allen anderen Opfern Gerechtigkeit widerfahren.

(Ich habe die Identität des „Teufels“ mit Absicht nicht enthüllt. Der kluge Leser wird sie sich bereits erschlossen haben.)

Unterm Strich
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Mit „Tokio“ ist der bestens eingeführten Bestsellerautorin Mo Hayder ein weiterer packender Thriller gelungen, der vom Leser bzw. wirklich gute Nerven erfordert, um die jeweiligen Höhepunkte aushalten zu können. Ich habe in meinen Ausführungen ja nur Andeutungen fallen lassen, um was es eigentlich im Kern geht. Aber mehr zu sagen, würde meines Erachtens bedeuten, zuviel zu verraten. Und das wäre unfair gegenüber meinem Leser.

Ich habe die zunehmend beklemmende Geschichte jedenfalls genossen und kann sie jedem sittlich gefestigten Leser bzw. Hörer empfehlen. Alle, die keinen stabilen Magen haben, sollten den Roman meiden. Das war aber schon bei Hayders Thrillers „Der Vogelmann“ und „Die Behandlung“ so. Wer diese gut und erträglich fand, wird auch „Tokio“ mögen. Der einzige Unterschied besteht in der historischen Dimension und den Schuldfragen, die dabei berührt werden – und die für Japaner und Chinesen immer noch aktuelle Gültigkeit haben.

Michael Matzer © 2006ff

Info: Tokyo, 2004; Random House 2005, München; aus dem Englischen übersetzt von Ute Thiemann; Gebundene Ausgabe - 415 Seiten - Goldmann, Juni 2005, ISBN: 3442310180, Preis: 19,90 EUR

Pro: spannend, komplex aufgebaut, überraschende Enthüllungen

Kontra: man braucht einen robusten Magen und gute Nerven






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