Reinhardt O. Hahn

Aus Liebe zum Volk. Ausgedient - nach Notizen eines Stasi-Offiziers erzählt

Sach. projekte-Verlag 188, 142 Seiten. 9.80 EUR . ISBN: 3-93195-036-0

Ich bin das Volk
Reinhardt O.  Hahn: Aus Liebe zum Volk. Ausgedient - nach Notizen eines Stasi-Offiziers erzählt

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Unsere Geduld hat sich gelohnt, sagte Manfred Stolpe, als er nach Jahren von ihm mitverantworteter milliardenschwerer Ausfälle schließlich doch einen längst überfälligen Termin zur Einführung der LKW-Maut auf deutschen Straßen präsentierte. Es gibt Leute, die haften einer Gesellschaft an wie Hundescheiße.

Im Jahr 2001 gibt Reinhardt O. Hahn die Erinnerungen eines Stasi-Offiziers heraus, der sich uns mit dem Klarnamen M. Braune präsentieren möchte. So sei er denn auch im Folgenden genannt.

„Aus Liebe zum Volk“, wird noch mit dem Untertitel „Ausgedient – Nach Notizen eines Stasi-Offiziers erzählt“ geliefert.
Es erschien 2000 zunächst in französischer Übersetzung. Der dortige Erfolg ließ dann auch 2001 eine deutsche und 2004 sogar eine Nachauflage gerechtfertigt erscheinen.

Es ist ein Werk, das seinen Wert einzig dadurch gewinnt, dass man dem Schreiber seine Authentizität abzunehmen gewillt ist: Unmittelbar nach der Wende schreibt er offenbar genau das, was er denkt. Und das schreibt er aus der Perspektive seines letzten Arbeitstages beim Ministerium für Staatssicherheit (das zu diesem Zeitpunkt aus alter Gewohnheit einen Decknamen führte).
Als Quelle mag das Geschreibe angehen, wenngleich man wirklich alles, was von gewerbsmäßigen Desinformanten als Information angeboten bekommt, hinterfragen sollte. Durch die Rahmung mit Nachwort und Nachwort zum Nachwort erfährt der Text selbst allerdings trotz kritischer Distanz eine Art Würdigung als literarische Arbeit, die zuviel der Ehre ist.
Andererseits kann man das Vorlügen von Authentizität auch schon wieder als literarische Gattung begreifen. Man kennt dergleichen von Autobiografien diverser politischer Größen.

Mir fiel bei der Lektüre zunächst Gustav Meyring ein, der 1913 in „Die schwarze Kugel“ einen indischen Büßer beschreibt, der in öffentlichen Vorführungen die Gedanken der Publikumsfreiwilligen sichtbar werden lässt. Wunderschöne Landschaften sind da zu sehen, aber auch eher Profanes. Als schließlich ein Offizier als Kandidat auftritt, passiert erst gar nichts. Dann implodiert das Geschehen in ein Schwarzes Loch.

Genauso kommt mir das vorliegende Buch vor. Doch will ich an meinem Leiden beim Lesen den dies Lesenden teilhaben lassen:

Da ist die Rede vom Vater. Der hat in pietistisch-kommunistischer Suche nach der echten Katharsis sogar das Westpaket der Cousine verbrannt; und zwar inklusive Matchbox-Autos, die sich der Sohn – unser künftiger Stasi-Offizier – dann aus der Asche klaubte.

Während dieser Vater sein Leben in Entwicklung lässt „Er sprach plötzlich abfällig über den Staat, über die Partei … Er hatte sich eine Freundin zugelegt. In seinem Alter, es war albern.“ (S. 31) bleibt der Sohn genau da stehen: Er klaubt Matchbox-Autos aus der Asche.
Besser kann man sein Bestreben, den Einfluss des Fremden in der Zone zu bekämpfen, wirklich nicht beschreiben.
Dissidenten nennt er „Andersdenkende“. Das ist in seiner Abteilung nicht mehr nur Beschreibung, sondern schon geflügeltes Wort. Bekämpft werden Kriminelle und „Andersdenkende“, also Aliens.

Nachdem er erst einmal angeworben worden war, und sich vom Wachdienst zu ersten Positionen hochgedient hatte, („Ich besaß zwei Dutzend Krawatten und vier gute Anzüge“), untersuchte er im Auftrag der Staatssicherheit so interessante Dinge wie ein rätselhaftes Kuh-Sterben, dass sich dann leider nur als Folge schlechten Futters herausstellt. Erfolgreicher war die Festname eines siebzehnjährigen DDR-Flüchtlings. Von da an ging’s bergauf.

Klar, muss er noch heute über Kollegen herziehen, die nur ein bürgerliches Leben wollten, ihr Fähnchen nach dem Wind hängten und gerne das fuhren, was sich in der Zone ein „Mittelklasse-Wagen“ nennen durfte. Ganz anders er selbst: Er wollte nur eine gut ausgestattete Wohnung mit Farbfernseher, neidete dem Chef seinen Citroen und hing sein Fähnchen ein wenig nach dem Wind.
Mit ihm hätten die Bürger ja vernünftig reden können, wenn sie denn in die Dienststelle gekommen wären und nicht statt dessen verbotenerweise die Öffentlichkeit gesucht hätten. Er versuchte es immer mit Überzeugung. Erst mal. Nur wenn das halt nicht ging, der Bürger uneinsichtig blieb … dann, ja dann…
Dann spielten sich Geschichten ab, wie die vom Fabrikdirektor, dessen Leben M. Braune zerstörte. Oder wie die von all den anderen Leuten, die er erfolgreich wegen ihrer Gesinnung für Jahre hinter Gitter brachte.

Wo denn Recht und Gesetz blieben, fragte er sich erst, als unmittelbar nach der Wende ihm und seiner ganzen Stasi-Sippschaft mal ein paar Wochen Arbeitslosigkeit drohen. Das war nun wirklich nicht fair. Doch als sein Sohn einen kleinen Witz wagt und ihm empfiehlt, als Kranführer zu arbeiten, weil er doch so gern die „Übersicht habe“, da schöpft er wieder Hoffnung: der Junge wenigstens ist pfiffig, "der wird es einmal weit bringen!" Noch weiter als M. Braune selbst?
Der fragt sich (S. 108) „Wer könnte auf meine Erfahrungen und die meiner Mitarbeiter verzichten?“ Die nahe liegende Antwort „Jeder“ sieht er nicht.
Auch nicht als fair empfindet er, dass jetzt an allem die Stasi die Schuld haben soll. Dabei habe die Stasi doch nur gemacht, was die Partei befohlen hat. Gut, wenn mal ein Betriebsleiter nicht so mit der Stasi kooperieren wollte, hatte der keine Karrierechancen und war bald weg vom Fenster. Aber Schuld hat von der Stasi eigentlich keiner. Die Schuld liegt bei der Partei.
Dass natürlich jeder Stasi-Mitarbeiter immer auch Parteimitglied war und ein Stasi-Offizier natürlich erst recht, erwähnt unser Held nur in anderem Zusammenhang.

In dieser Leier geht es ständig weiter. Unverdaulicher Inhalt in unverdaulicher Form. Noch eine Probe:
„Ich erhielt eine spezielle Schulung in der Fahndung nach Handschriften und ich studierte, wie man Lehrgangsteilnehmer in kriminalistischen Anfänger-Praktiken unterrichtet. Diese Kenntnisse machten mir [sic!] zu einem unentbehrlichen Helfer der Bezirksverwaltung.“ (S. 31). Das hat wohl sogar der Lektor dann so stehen lassen wollen.

Klar, Fehler werden halt gemacht. Das sieht Braune auch. Man hätte - so meint er - zum Beispiel in der Vorwendezeit mit der Intelligenz im Land zusammenarbeiten sollen, anstatt sie zu bekämpfen. Das war ein Fehler.
Nur welcher intelligente Mensch möchte mit Leuten wie Herrn Braune zusammenarbeiten?

Dem „Dienst am Menschen“ war seine ganze Arbeit gewidmet. Und wie in jeder Sekte, bezog die Staatssicherheit einen Teil ihrer inneren Legitimität aus der Ausbeutung der personellen Ressourcen ihrer Mitarbeiter. Die Außenwelt stirbt dem einzelnen Mitglied ab: „In dieser Zeit kam es zum Bruch mit allen Menschen, die nicht in irgend einem Zusammenhang mit unserer Dienststelle standen“ (S. 31). Die Freizeit wird beschnitten und in den Dienst der Sache gestellt. Folgerichtig meint das Mitglied der Sekte, ein unwahrscheinlich fleißiger und aufopferungsfreudiger, deshalb nützlicher Mensch zu sein. Ein verheerender Irrtum. Ein saufender Faulenzer in der Stasi wie in jeder anderen Sekte ist der Gesellschaft nützlicher als ein Typ wie Braune. Der war ein fleißiger Wadenbeißer, dessen ganzer Stolz in seinen akribisch geführten Akten lag, aus denen er noch vor der Übergabe an die Auflösungskommission alle Hinweise auf eigene Straftaten einzeln tilgte. Selbst diese Mammutaufgabe, in nur wenigen Tagen erledigt, rechnet er sich noch als Fleiß, Treue und Zuverlässigkeit bis zur letzten Stunde an.

Über die Stadt blickend, sinniert er einmal, was die Leute in den Häusern wohl jetzt alles tun. Was sie reden, wissen, denken. Wie und wen sie lieben. Er hat den unbändigen Drang, das alles zu wissen, jede Einzelheit. Und interpretiert dieses Verlangen, diese Mischung aus Voyeurismus und Kontrollzwang, wie weiland sein oberster Dienstherr Erich Mielke selbst, als Liebe zu den Menschen, als Liebe zum Volk. In seinem antrainiertem Autismus jedoch ist er selbst dieses Volk.

Nun gut, man kann das alles in die Ecke stellen und dort stehen lassen. Mit Missvergnügen kann man sich daran erinnern, welch kleinbürgerlich spießige, unintelligente und nicht zuletzt unfähige Leute der ostdeutsche KGB-Ableger so beschäftigte. Es demütigt noch im Nachherein, vor diesen Typen Angst gehabt zu haben.
Doch diese Blockwart-Charaktere besaßen Macht, viel Macht. Und das eben machte sie gefährlich.

Aber so richtig eiskalt ist es mir nur an einer Stelle über den Rücken gelaufen.
Dort, wo Braune seinen Jubel über einen Pfarrer beschreibt, den er zum IM drehte.
Nicht wegen des Pfarrers wurde mir kalt, sondern wegen des Hintergrunds.

Die evangelische Kirche, neben Partei und Stasi die dritte Säule der DDR, galt den Stasi-Fritzen als Konkurrent. Während die Kirche dafür zuständig war, die Opposition unter ihrem Dach weich zu mürben, bekämpfte die Stasi sie frontal.
So war es immer ein Ziel, einen von der Konkurrenz direkt zur Mitarbeit zu bewegen.
Das funktionierte dann so:
„Plötzlich bot sich die sexuelle Abnormität eines Pfarrers an: Er fühlte sich von minderjähriger, jungfräulicher Haut angezogen. Die Unterstufenlehrerin, der sich das Mädchen vertrauensvoll näherte, war eine inoffizielle Mitarbeiterin. Es gelang ihr, das Kind zu beruhigen. Sie bagatellisierte die unsittliche Annäherung des Pfarrers. Eine gelungene Zuarbeit der Genossin. (…) Das Widersinnige an diesem Pfarrer war, dass er, gutverheiratet, hübsche Töchter hatte, die allesamt wohlerzogen, ordentlich und sittsam waren. Wir hatten den Pfarrer fest in der Hand. (…) Viel Überzeugungskraft hat es nicht gekostet. Der Sachverhalt war so eindeutig und der Herr im schwarzen Anzug so sehr auf seinen und den Ruf der Kirche bedacht. Wir wurden uns recht schnell einig.“

Der „gute Ruf“ war es also, der Kirche und Stasi neben ihrem Anspruch auf jeweilige Ideologiehoheit verband. Die kleinbürgerliche Moral, die den erzählenden Offizier auch seine eigenen Begehrlichkeiten im Ausdruck verraten lässt, verhindert Entwicklung, verdrängt Lust und pervertiert sie. Nimmt man Braunes Wortlaut, so beschreibt er es als ja regelrecht als widersinnig, dass sich der Pfarrer nicht an seinen eigenen Töchtern vergreift.
Der Stasi-Offizier erpresst den Pfarrer mit seinem Wissen, ohne an das missbrauchte Kind zu denken. Dessen Mut, das verletzend Erlebte mitzuteilen, wird nur als Mittel zum Zweck ausgenutzt. Bagatellisierung als Zuarbeit.
Auch auf dem gemeinen Strich nennen sich ja die Zuhälter „Beschützer“. So sah sich auch die Stasi in einer „Beschützer“-Rolle.

Meine Trauer, mein Mitleid und meine Solidarität dagegen gilt jener Grundschülerin, deren Persönlichkeit damals durch Erwachsene intim und psychisch verletzt wurde. Zwei Institutionen, die sich die Verfolgung von Grenzverletzern auf die Fahne schrieben, verweigerten ihr nicht nur Hilfe. Statt dessen wurde sie zwischen diesen beiden Eisblöcken, Kirche und Stasi, zerrieben.
Hoffentlich hat diese inzwischen etwa dreissigjährigen Frau in ihrem Leben doch noch jemand gefunden, dem sie sich anvertrauen konnte.

Stasi dagegen – das war die Fortführung des Missbrauchs mit anderen Mitteln.






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