Mit <> liegt beim Merlin
Verlag das letzte der sechs Langgedichte von Jean Genet (1910-1986) vor,
diesmal zweisprachig und in Gerhard Edlers Übertragung. Formal und
inhaltlich schliesst es an Genets 1942 als Privatdruck erschienenen Erstling
<> an. In vier-, manchmal fünfzeiligen
gereimten Strophen setzt sich das Gedicht aus der Gefängnissituation
frei, durchwandert in bildstarken Assoziationen Traum- und Erinnerungslandschaften,
phantastische Gärten, in die Genet den Lobpreis des im Alter von 20
Jahren zum Tod verurteilten Maurice Pilorge verwebt: „Wenn du schläfst,
branden Pferde in der Nacht / auf deine flache Brust, und der Galopp der
Tiere / verjagt die Finsternis, in die der Schlaf / seine mächtige
Maschine lenkt, die er meinem Haupt entrissen, / und ohne den geringsten
Laut // lässt der Schlaf aus deinen Füssen soviele Zweige blühen,
/ dass ich zu sterben fürchte, erstickt von ihren Schreien.“ Der
junge Dandy Pilorge wurde am 4. April 1939 enthauptet, weil er im Vorjahr
einen Mexikaner in einem Badeort an der Nordküste der Bretagne wegen
einer kleinen Geldsumme umgebracht hatte. Die unerschütterliche Überlegenheit,
ja, der Humor, mit dem der Verurteilte seine Strafe antrat, machte Schlagzeilen.
Anekdoten wurden bekannt, z.B. dass Pilorge, als ihn der Scharfrichter
zur Eile trieb, erwiderte: „Wenn Sie’s so eilig haben, wollen Sie an
meine Stelle?“, oder dass er zur letzten Messe mit einer papierenen
Polizistenmütze erschien oder dass er seinem Anwalt kurz vor der Enthauptung
seine Uhr mit den Worten überreichte: „Sie können sie tragen,
ohne Angst zu haben, sich dran zu vergiften, und danke für alles,
was Sie für mich getan haben! Sie hätten einen besseren Mandanten
verdient.“ - Pilorge, den Genet nicht gekannt hatte, wurde von ihm
kurzerhand zu einem seiner „unbekannten Geliebten“ erklärt,
mit anderen Geliebten, homosexuellen Gefängniserfahrungen auch, verflochten
und einer poetischen Apotheose unterworfen; so mischte der in seiner Zelle
fiebrig phantasierende Dichter Pilorges Schicksal auch mit demjenigen von
Johannes dem Täufer: „Bist das du, anderes Ich, ohne deine Silberschuhe,
/ Salome, die mir eine geschnittene Rose bringt? / Diese blutende Rose,
endlich aus ihrer Wäsche / gewickelt, ist sie die seine oder der Kopf
des Johannes?“ In dieser Jahrhunderte überspringenden Verschmelzung
scheint Genets Wunsch auf, den schönen, von der Justiz vernichteten
Körper zu verewigen, ein Wunsch, den seine Dichtung einlöst,
wenn sie Pilorge trotzig sagen lässt: „Ich bin für immer zwanzig
Jahre alt, trotz eures Strebens.“ Dass Genet solchermassen das klassische
Terrain der Kouros-Verehrung betrat, wusste er; er goss sein Gedicht in
strenge, oft alexandrinische Verse. Doch sprengte er die Form zugleich
von innen, unterminierte sie mit seiner abgründigen, blasphemischen,
erotischen Zellenphantasie, in die er den jungen Toten einmarschieren liess.
Was ihn ihre Ausforschung gekostet hat, erahnt man am Schluss des Langgedichts:
„Wenn ihr mich über meinen Tisch gebeugt sehen könntet, /
das Antlitz abgezehrt von meiner Schriftstellerei, / wüsstet ihr,
dass dieses Abenteuer mich auch anekelt, / erschreckend in seinem Mut,
das Gold zu entdecken, / das unter soviel Fäulnis verborgen.“
Der grosszügig gesetzten Ausgabe sind 26 Transparentlithographien
von Johannes Vennekamp beigegeben, der ebenso für die zarte Typographie
und die luftige Gestaltung des schönen Bandes zeichnet. Vennekemps
feinnervige farbige Montagen balancieren Leitmotive von Genets funkelndem
Frühwerk aus und kontaminieren in raffinierten Schriftbildern dessen
Schlüsselfigur Pilorge mit Figuren aus Genets späterem Werk,
dem magnetisierenden Einarmigen Stilitano etwa aus dem <> oder dem mörderischen Matrosen Querelle.
Florian Vetsch
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