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Auch ein intelligent aufgebautes, ein einfühlsames, scharfsichtiges und analytisch präzises Buch kann langweilig sein, wenn es thematisch nichts Neues bietet.
Ursula Frickers Erstlingsroman beginnt am Ende der Schweiz mit einer Leiche:
»Unter einem Schaum zarten, frischen Schnees lag er begraben, wie friedlich schlafend im eisigen Bett, die Augen geschlossen. Es wurde gerade hell.
Zuerst hielt man ihn für einen schlafenden Betrunkenen, später für einen toten Betrunkenen.
Aber mein Vater ist nie betrunken gewesen.
Sein Fahrrad lag einige Meter weiter, halb in den Graben gerutscht, ein hellgrünes Dreigangfahrrad mit bis auf das Gewebe abgefahrenem Mantel, vorne und hinten.«
Das Bild ist ausgesprochen stimmungsvoll. Sogleich wittert man einen Mord, für dringend tatverdächtig halten wir Ida Brock, die Tochter des Toten. Fehlt nur noch das Motiv…
Aber ‘Fliehende Wasser’ ist kein Krimi. Wenngleich die Frage nach Täterin oder Täter, wenn es denn eine/n gegeben haben sollte, das ganze Buch hindurch im Kopf des Lesers nachhallt, wird sie explizit nicht gestellt.
Motive allerdings werden zuhauf geliefert: Simon Brock war – kurz gesagt – ein Ekel.
Ganz so undifferenziert kann man das natürlich nicht stehen lassen. Jedes Ekeltum hat Ursachen, jedes Ekel Gründe, weshalb es ekelhaft ist. Auch Simon Brock ist ein Kind seiner Zeit und seiner Umstände.
Eindrücklich beschwört Ursula Fricker die Nachkriegszeit, die 50er und 60er Jahre herauf, die zeitgemäßen Engstirnigkeiten und Kleinkariertheiten des Schweizer Kleinbürgertums.
‘Kleinbürgertum’ ist natürlich nicht das richtige Wort; Simon Brock hat unter vielem anderen ein Standeszugehörigkeitsproblem. Er weiß nicht, welcher gesellschaftlichen Schicht, welchem Berufsstand, mitunter gar, welcher sexuellen Ausrichtung er angehört. Also ist er Einzelkämpfer. ‘Er’ ist gleichbedeutend mit ‘Familienvater’ und ‘-oberhaupt’ und schließt die Familie, Frau, Sohn und Tochter eisern mit ein. Und die sind nun auch die Hauptleidtragenden des patriarchalen ‘Ich gegen die Welt’.
Augenfälligstes äußeres Merkmal des sich-selbst-Ab-und-Ausgrenzens ist die ‘gesunde’ Lebensweise des Vaters und (erzwungenermaßen) der restlichen Familie. Nach der Devise ‘niemand kann krank werden, wenn er sich richtig ernährt’ gibt es bei den Brocks kein Fleisch, keine Süßigkeiten, kein Eis, keinen Käse, von Alkohol und Zigaretten ganz zu schweigen. Dabei hat Simon Brock früher, vor langer, langer Zeit, selbst ganz ordentlich geraucht und gesoffen. Aber wie gesagt: Das ist lange her…
In kurzen Absätzen erzählt Fricker die Geschichte Simon Brocks, sprunghaft wechselnd zwischen kürzer und länger zurückliegenden Ereignissen, zwischen der nüchternen, einfühlsamen Sichtweise der außenstehenden Erzählerin und der leidtragenden Tochter Ida – die ihrem Vater mehr als einmal den Tod an den Hals gewünscht hat.
Bei all dem geht es natürlich auch dem Vater selbst mit seinen zahlreichen Phobien und Neurosen keineswegs gut. Er lebt in beständiger Angst vor Verstopfung, feuchten Wänden und zuvorderst vor Leuten, die anders sind als er selbst.
»An jedem Wochenende so weit wie möglich von zu Hause fort. Er fuhr in alle Himmelsrichtungen, kam spät am Sonntagabend zurück. Die Mutter stand hinter der Gardine und wartete. Ihre Augen waren rot vor Wut, die sie Angst nannte. Wenn er zur Tür hereinkam, ging sie ohne ein Wort zu Bett. Am nächsten Morgen ums sechs stand das Frühstück auf dem Tisch und die Mutter schweigend daneben. Ihre Haare waren sorgfältig über große Bigoudis gezogen, in jedem steckte eine Nadel, und über allem lag ein feines Netz. Die Mutter schwieg die halbe Woche, und wenn sie endlich zu sprechen begann, fuhr Simon Brock wieder fort. Er war der letzte ihrer Söhne, der noch zu Hause wohnte, der jüngste.«
‘Fliehende Wasser’ ist intelligent aufgebaut, feinfühlig, scharfsichtig, analytisch präzise und dennoch: Packend ist es nicht. Man wird irgendwie das Gefühl nicht los, als habe man diese Aufbereitung schon irgendwo gelesen. Liegt es womöglich am Thema? Liegt es daran, dass bereits in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur die Figur des Vaters bis zum Exzess analysiert, seziert, ausgeweidet wurde? Bis zum Erbrechen? Jüngst erschienen, höhnischerweise unter dem Titel ‘Die Besten’, die prämierten Texte der Bachmann-PreisträgerInnen der letzten 25 Jahre in einem Band, und siehe: In nahezu einem Viertel der Texte wird der leidige Vater verwurstet.
Wie Frickers Buch beweist, ist der Bachmann-Preis kein letztes Nachbeben dieser Art von Väter-Literatur. Sicher, Väter wird es immer geben, und immer wird es etwas an ihnen auszusetzen geben – aber als literarische Figur wird der ewige Vater doch langsam aber sicher – langweilig.
Ursula Fricker wurde 1965 in Schaffhausen geboren und lebt heute als freie Autorin in der Nähe von Berlin. Sie publizierte verschiedene Anthologiebeiträge und Reportagen. Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste in Berlin. ‘Fliehende Wasser’ ist ihr erster Roman. Er wurde mit einem Förderbeitrag von Stadt und Kanton Schaffhausen ausgezeichnet.
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