Es gab Zeiten, da konnten Frauen nur in der Larve des anderen Geschlechts in die beruflichen Domänen des Mannes eindringen. Wo die Travestie des Weiblichen von Tootsie bis Miss Doubtfire meist zu heiteren Kostümspielchen Anlaß bot, geriet die kurzhaarige Imitation des Männlichen in Kunst und Leben von Yentl über den Jazzmusiker Billy Tipton bis hin zu einem falschen Papst bisweilen zur einzigen Möglichkeit, die zugeteilten Lebensmuster abzustreifen.
Einer solchen (authentischen) Gestalt hat sich die britische Erzählerin Patricia Duncker in ihrem zweiten Roman angenommen.Wußte sie vor zwei Jahren mit ihrer Germanistin auf unterhaltsame Weise zu einer Beschäftigung mit dem französischen Philosophen Michel Foucault zu verführen, verfolgen wir jetzt die turbulente Geschichte des englischen Arztes James Miranda Barry, der zum Auftakt des 19. Jahrhunderts noch als Frau auf die Welt kommt.
Die drei Liebhaber der Mutter inszenieren mit ihrem Geld und ihren Namen den Identitäts- und äußerlichen Geschlechtswechsel des ungewöhnlich begabten Kindes, das elfjährig bereits mit dem Medizinstudium beginnt und seine Kommilitonen fasziniert. Der nachmalige kleine rothaarige Doktor mit den kalten Händen und den kalten Augen, von dem man sagt, er rede daher wie vergilbte Folianten, gelangt zunächst in seiner Heimat, später in der von Sklavenaufständen aufgeschüttelten Karibik zu Ansehen und bescheidenem Wohlstand.
In der Geschichte seiner Jugendfreundin Alice Jones, dem schmutzigen Küchenmädchen, dem Barry einst mit Bunyans Pilgerreise das Lesen beibrachte, und die zur erfolgreichen und begehrten Shakespeare-Schauspielerin aufsteigt, findet die Lebensgeschichte des zugeknöpften Arztes einen aufschlußreichen Widerpart. Zwei ganz verschieden ausgreifende weibliche Biographien im England des letzten Jahrhunderts, an deren Anfang eine folgenreiche Maskerade steht, die erst nach dem Tode Barrys aufgedeckt wird.
Anders als in ihrem Erstling vermag Duncker hier leider nicht durchweg zu fesseln. Einige Passagen, etwa die Studienzeit Barrys in den zugigen Anatomiesälen Edinburghs hätte man sich atmosphärisch satter gewünscht, auch vermag die psychologische Zeichnung der außerordentlichen Begabung ihres Helden anfangs nicht so recht zu überzeugen. Trotz solcher Schwächen jedoch ist die durchaus lesenswerte Geschichte jenes Arztes anzuzeigen, der angeblich, so erzählt man sich, sogar Napoleon die Augen zugedrückt haben soll, damals auf St.Helena.
Oliver Jahn
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