Jesús Díaz

Die Dolmetscherin

Roman. Piper, München. 252 Seiten. 18.90 EUR . ISBN: 3-492-04415-8

Wechselbäder der Gefühle und anderer Extreme
Jesús  Díaz: Die Dolmetscherin

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Der letzte Roman des 2002 verstorbenen Exilkubaners Jésus Díaz spielt zwischen Kuba und Sibirien, zwischen 40 Grad im Schatten und 40 Grad unter dem Gefrierpunkt. Welten prallen aufeinander: Kubanischer Überschwang, sibirische Unterkühlung. Aber so sehr die resultierende Kitschgefahr unterschwellig die Lektüre begleiten mag: Das Buchs ist ein Genuss; kein bisschen sentimental, kein bisschen kitschig.

Tiefste Verzweiflungen, höchste Glückstaumel, dazwischen dunkelste Abgründe, geheimste Ängste und Hoffnungen – und am Ende eine Liebe, die – ganz am Ende – stärker ist als das Leben. Starker kubanischer Tobak; Jesús Díaz trägt dick auf. Darf er das?

Er darf, immerhin ist er Latino. War Latino. Anfang der 70er Jahre verließ Díaz sein Heimatland Kuba und ging ins spanische und deutsche Exil. 2002 ist er gestorben. Die Dolmetscherin ist sein letztes Buch, eins der letzten Bücher des 20. Jahrhunderts, über eine längst, längst vergangene Zeit…

Bárbaro ist Journalist, schwarz und im Auftrag seiner Zeitung unterwegs von Havanna nach Irkutsk und von dort aus noch tiefer in die sibirische Kälte, um einen Artikel über die Baikal-Amur-Magistrale zu schreiben, die Transsibirische Eisenbahn. Reise und Artikel stellen auf seiner Karriereleiter einen steilen Sprung nach oben dar.

Oberflächlich – insgeheim hat er auf dieser Reise ein weiteres Ziel als Sibirien, so geheim, dass er es – in Form eines Gelübdes – nur seinen Göttern anvertraut hat: Endlich mit einer Frau zu schlafen. Denn Bárbaro ist trotz seiner 28 Jahre und seines guten Aussehens noch Jungfrau. Nicht, dass er es bisher noch nicht probiert hätte; es funktioniert im entscheidenden Moment einfach nicht.

Und mit dem Thema Impotenz hat natürlich ein Macho vom guten alten lateinamerikanischen Schlag (zugegeben, nicht nur er…) seine Schwierigkeiten; ebenso wie mit dieser gottverdammten Flugangst, deretwegen er sein ungewöhnliches Gelübde abgelegt hat.

Die vier Abschnitte des Romans sind nach den vier Elementen benannt. Der erste heißt ‘Luft’ und spielt im Flugzeug zwischen Havanna und Moskau. In seiner Panik vorm Fliegen und seiner Versagensangst vor der Zukunft lässt Bárbaro die Stationen seines Lebens Revue passieren und zeichnet dem Leser ein einfühlsames und bewegendes Bild eines kubanischen schwarzen Jugendlichen aus ärmlichen Verhältnissen. Seine Jugend war keine ganz einfache; immerhin kommt auch seine Impotenz nicht von ungefähr.

Nicht nur während des Flugs, auch danach stößt Bárbaro beständig an seine Grenzen. Die sibirischen Klima- und Hygieneverhältnisse, die groben Umgangsformen, das unverhohlene Staunen und der latente Rassismus, den seine Herkunft und seine Hautfarbe allenthalben hervorrufen, reiben ihn auf – und nicht zuletzt die Unnahbarkeit Nadeshas, seiner Dolmetscherin, die ihn auf dieser Reise in die Wildnis begleitet – der einzigen Frau weit und breit…

Auch in seinem Erzählstil schöpft Jesús Díaz aus dem Vollen: Seine Liebe zum Detail geht so weit, dass man von all den Ausdünstungen und Körperausscheidungen, die er lebendig beschreibt, zuweilen die Nase allzu voll bekommt, seine Neigung zu Tränen, Besäufnissen und sonstigen Gefühlsentladungen streift zuweilen hart an der Grenze zum Kitsch entlang.

Und doch schafft er durch den eigenwilligen Wechsel von Retrospektiven und Handlungsfortgang einen Erzählrhythmus, einen Sog, der mitreißt. Und so vorhersehbar das Ende einer so aussichtslosen Liebe wie der zwischen Bárbaro und Nadesha auch sein mag, so überraschend kommt es doch plötzlich daher – so phantastisch, so ergreifend und – so sehr man auch das Taschentuch zücken mag – kein bisschen sentimental.

“Vielleicht hatte er deshalb nie aufgehört, an dieses Spielzeug [das Puppenhaus seiner Tante Lucinda] zu denken und es mit der Realität der Baracke zu vergleichen, in der er lebte. Ja, sagte er sich, während er unruhig auf seinem Sitz hin- und herrutschte, dieses Haus war das Gegenteil des dunklen Lochs, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Und nicht nur, weil es einen Garten, einen Swimmingpool und einen Cadillac hatte, sondern auch und vor allem, weil John, Jane, Tom und Mary [die Puppenhausbewohner] immer lächelten. Niemand hörte sie je fluchen oder sich gegenseitig beschimpfen, wie Roberto und Domitila das so häufig taten; niemals schlug John mit seinem Gürtel Toms Hintern grün und blau, weil der aus Angst vor den Ratten ins Bett gemacht hatte, und er stellte ihn auch nicht als schwul hin, weil er im Puppenhaus wohnte und spielte.”

Dieter Lohr




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