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Rolf Dieter Brinkmann (*1940, Vechta) sei „Deutschlands einziger Beatpoet“,
hypertrophiert Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen. Brinkmann
selbst äusserte sich zu dieser Frage 1974 etwas zurückhaltender.
Über seinen Gedichtband Was fraglich ist wofür (1967) sagt er
in den von seiner Witwe Maleen Brinkmann aus dem Nachlass herausgegeben
Briefen an Hartmut: „Das Material war oft sehr künstlich, Postkarten,
Filme, Bücherzitate, Lektüre, Illustrierten und Zeitungsnachrichten
– Und <
Sein Briefpartner ist der Student Hartmut Schnell, der in Austin, Texas, lebt. Dort nahm Brinkmann Januar bis Mai 74 ein Gastlektorat wahr. Hartmut arbeitet an einer Magisterarbeit über Brinkmann. Diesem Umstand und Brinkmanns freundschaftlicher Offenheit haben wir es zu verdanken, dass der Autor des Gedichts „Zwischen / den Zeilen / steht nichts / geschrieben. // Jedes Wort / ist schwarz / auf weiss / nachprüfbar“ hier die eigenen Bände Poem für Poem in assoziativen Skizzen erläutert, ihre Entstehungsbedingungen memoriert, auf Lektüren hinweist, Beweggründe offenlegt oder Motive wie „Bewegung“, „Orte“, „Helligkeit“, „Sprache“, „Sex“ hervorhebt. Wie nebenher stellt Brinkmann noch in diesen langen Passagen für den Magistraten Schnell nicht nur eine Fundgrube für Brinkmann-LeserInnen aller couleur her, sondern dank seiner unverwechselbaren Diktion ein para-künstlerisches Primärwerk. Selbst wenn seine Zugänglichkeit, dem Genre entsprechend, ungleich höher ist, so beeindruckt Brinkmanns Briefkonvolut, das er in einem Schnellhefter mit 139 Briefdurchschlägen abgelegt und handschriftlich mit Briefe an Hartmut betitelt hat, nicht weniger als frühere Veröffentlichungen aus dem Nachlass. Auch Brinkmanns Briefkultur hat den Mammut-Touch seiner späten Schriften, ist exzessiv, ungefüg oder, um mit dem Brinkmann-Idol Hans Henny Jahnn zu sprechen, ein „Fluss ohne Ufer“: Einzelne Briefe mäandern über 40 Seiten, wuchern von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht...
Schroff aber grenzt sich der karge Alltag in Köln von der brieflichen Nähe zu dem fernen Studenten ab. In Köln mangelt es Brinkmann an literarischem Austausch. Die mentale Öde paart sich mit materiellen Nöten – zu Zeiten öffnen Brinkmanns nicht, wenn es klingelt, weil sie befürchten, es sei der Beamte, der ihnen „den Strom abkneifen“ wolle. Schwierigkeiten an Ecken und Enden, auch mit der Sonderschule für den sprachgestörten 10jährigen Sohn Robert. Dann die Nöte mit Rowohlt. Westwärts 1 & 2 – Brinkmanns endlich wieder greifbar gewordener letzter Gedichtband - muss empfindlich gekürzt werden, Fotos fallen raus, Text. Dazu kommt sein Ungenügen an der deutschen Umgebung, gegen die sich Austin in der Erinnerung wie ein verlorenes Paradies abhebt. Und so prägt Brinkmanns Wut auf Deutschland über weite Strecken die Seiten, sein verzweifelter Protest gegen die deutschen Gegebenheiten, die „Drecksrealität“. Brinkmann engt das „Zaundenken, ringsum“ ein. Er klagt die emotionale Kälte an, den „Befehlston“, die latente Gewaltbereitschaft, begehrt gegen die Unfreiheit und Verklemmtheit auf, murrt über „negative Rückkopplungen, gegen die man sich hier sehr schwer wehren muss“, oder grollt Kölns dumpfer „Industrieatmosphäre“. Oder er reisst den Hintergrund auf, die „zersplitterte Perspektive, worin man aufwuchs“, stellt die Brüche, Risse, Schnitte klar, die seine Generation in eine Aussichtslosigkeit und in einen Traum warfen. Und unermüdlich deckt Brinkmann die allgegenwärtige Bewusstseinskontrolle mittels Sprache auf, die typisch deutsche Vorherrschaft der „Gedanklichkeit“, auch im Umgang mit und der Produktion von Lyrik - bei gleichzeitiger „Lustverweigerung“ und „Scheu vor Sinnlichkeit“: „In der deutschen Sprache sind Begriffe wie Literatur, Kultur, Kunst Schlagwörter. Zuerst kommt immer Literatur, Kultur, Kunst usw. und dann erst Leben, Lebendigkeit. Ich für mich kann das nicht akzeptieren. Und deswegen bin ich auch schludrig und schlampig gegenüber Literatur, Kultur, Ziviehlisation, Viehlologie, Kunst usw.“
Gegenwelten bieten ihm vitale Rockmusik, amerikanische Dichter und der
literarische Underground, dessen lähmende Konsumtendenz Brinkmann
allerdings, bei aller Idealisierung, früh realisierte: „Ich erinnere
mich gerade daran, dass ich beinahe jedesmal erschrak, sah ich einen hippiehwestdeutschenmufftyp
mit einem Acidbuch unterm Arm – dafür wars gar nicht gemacht.“ Brinkmanns
Entwürfe gehen aber noch weiter. „Sexualität ist wirklich
ein ganz lebendiger Gegenpol dazu, eine richtige Befriedigung (jedesmal
wenn ich gut gefickt habe, von beiden Seiten her, merke ich die wirkliche
erstaunliche Abstand-Distanz zu dem Rummel der grau ist ringsum!)“
Gegenentwurf ist ihm alles, worin er „Lebendigkeit“ wittert, „Impuls“.
Er entwirft die „Schöne Utopie: wahrnehmen, sehen, aufnehmen, erleben
ohne durch Wörter, Verstehen, vorprogrammiert zu sein - direkt.“
Und aus der Direktheit der sinnlichen Wahrnehmung heraus will er festhalten,
„was über den Bildschirm des Bewusstseins geht“ und wie es „sich
zusammensetzt“. „Kurzzeitgedächtnisszenen“ nennt Brinkmann
seine Gedichte. Letztlich tauchen seine sprachlichen Äusserungen aus
einem „Wissen ohne Wörter, ohne Absicht“ auf. Das ist die Folie
des Han Shan vom Kalten Berg, des chinesischen Dichters, der die Menschen
verliess und den Namen des Berges, auf den er sich zurückgezog, annahm
und Gedichte auf Felsen schrieb; das ist die Zen-Folie: „Wenn man nachts
allein in einem Zimmer sitzt, Schallplattenmusik an, ringsum ziviehlisationswüste,
ist das beinahe wie auf einem <
Ganz beiläufig bietet der Band also viel Ausserpoetologisches.
So auch Stellen, die Theweleits Aussage erhärten, dass Brinkmann,
obschon sich seine Protesthaltung in den 70ern nicht verwässerte,
im Unterschied zu vielen anderen deutschen Intellektuellen angesichts der
Aktivitäten der RAF keinem „abstrakten Radikalismus“ verfiel, der
das „Realitätszeichen“ der Menschentötung ausblendet. Die Briefe
halten Brinkmanns erste Reaktionen auf Medienmeldungen zur RAF noch im
unmittelbaren Nachbeben fest. Dass es Meldungen waren, war dem McLuhan-geschulten
Brinkmann dabei stets bewusst: „Überall jetzt Wörter in der
Öffentlichkeit: < Die Briefe an Hartmut sind ein guter Anlass, die Frage zu stellen, wohin
wir in dem Vierteljahrhundert seit ihrer Niederschrift gekommen sind. Aspekte
dafür bietet der Schlussbrief des Buches, den Hartmut Schnell am 22.
August 1998 an den verstorbenen Rolf geschrieben hat, in Austin. Eine schöne
Geste, in der sich einlöst, dass dieser Band auch das Buch einer besonderen
Männerfreundschaft ist.
Florian Vetsch
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Danke.
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