Martin Brinkmann

Heute gehen alle spazieren

Roman. Droemersche Verlagsanstalt, 153 Seiten. 29.80 DM . ISBN: 3-421-05447-9

Martin  Brinkmann: Heute gehen alle spazieren

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Selbstsuche mit Witz, Wut und Wehmut - Martin Brinkmanns Debütroman "Heute
gehen alle spazieren"

 

"Mein Herz so schwer und mein Kopf so leer": Mit einem launigen Lamento eröffnet Martin Brinkmann seinen Debütroman "Heute gehen alle spazieren" - und nennt sogleich die Dinge beim Namen: "Den Zivildienst hinter mir und noch nichts vor mir." Weltschmerz, postpubertäre Perspektivlosigkeit und Identitätskrise - der Bildungsroman lässt grüßen.

Tatsächlich erfüllt Brinkmanns Buch die solchermaßen geweckten Erwartungen - allerdings auf eher ungewöhnliche Art und Weise. Denn der 1976 geborene Autor hat seinem Ich-Erzähler und, wie vermutet werden darf, Alter Ego so viel ironische Selbstdistanz verpasst, dass sich Witz, Wut und Wehmut die Waage halten und zu einem ebenso unterhaltsamen wie anspruchsvollen Selbstfindungsprotokoll ergänzen.

Die Handlung ist in der norddeutschen Tiefebene angesiedelt, und passend dazu verfügt auch der namenlose Ich-Erzähler über eine Art nordisches Temperament: Lakonisch und trockenhumorig beobachtet er seine Umwelt und vor allem sich selbst, stets auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: "Was soll bloß aus mir werden?" Dabei kann der Ton immer wieder von unprätentiös zu poetisch wechseln - eine Fallhöhe, die den Erzählfluss mit einer spannungsreichen Unterströmung versorgt.

Dass der Humor dabei nicht zu kurz kommt - auch nicht in den zahlreichen Rückblenden, bei denen das Sterben des Vaters eine zentrale Rolle spielt -, beweist gleich das erste Kapitel: In einem Klohäuschen erspäht der Erzähler durch ein Loch in der Trennwand seinen Kabinen-Nachbarn, der plötzlich "seinen Schwanz durch diese Löcher" steckt. Das Organ wirkt "wie ein stummer, mit Splitterchen bestäubter, schlapper Besucher", als wolle es "gleich weinen und mich vorher noch etwas fragen". Anstatt jedoch "voll draufzutreten" flieht der Geschockte das skurrile Örtchen und reflektiert später den "saublöden und sinnlosen" Vorfall: "Einfach nur ein Schwanz in einem Cuxhavener Toilettenhäuschen."

Diesen eher bodenständigen Nihilismus pflegt Brinkmanns Erzähler auch ansonsten, etwa wenn er feststellt, dass "nichts möglich ist, solange man nicht mit sich selbst vollständig im reinen ist, und da das nie der Fall ist, ist also nur Scheiße möglich". Nebeneffekt dieser defätistischen Privatphilosophie ist ein ausgeprägtes Kontingenzbewusstsein - "Alles könnte anders sein" -, das bis zur Selbstentfremdung reichen kann: "Ich sehe in letzter Zeit immer andere an meiner Stelle."

Stets birgt die gesteigerte Distanz zum eigenen Ich jedoch eine gehörige Portion Selbstironie, weshalb den eigenen "wehleidigen Gedanken" die Selbstschelte meist auf dem Fuße folgt ("Ich bin ja so alleine, sage ich mir lächerlicherweise") oder gleich von Anfang an ironisch relativiert wird: "Weiterhin gefalle ich mir in gesteigertem und immer weiter gesteigertem Selbstmitleid, fallengelassen in eine Wolke aus antihistaminischem Nichts."

Neben der Reflexion aufs eigene Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden, die - wie der regelmäßige Bier- und Zigarettenkonsum - stets mitläuft, besteht eine weitere Konstante in Verweisen aufs Wasser, speziell aufs Meer, das dem Erzähler einen Resonanzraum für seine Emotionen bietet. Nur logisch, dass er wünscht, seine Asche werde einmal über der "unruhigen Nordsee" verstreut. Und weil dieser Roman in jeglicher Hinsicht nah am Wasser gebaut ist - selbst wenn der Erzähler ausnahmsweise einmal glücklich ist und "an eine gute, freundliche Zukunft" denkt -, herrscht eine grundsätzliche Tristesse. Dass diese keineswegs royaler Natur ist, zeigt auch das Schlusskapitel, das einen Teneriffa-Urlaub als unerquickliche Melange aus Herpes, Dosenbier und Baulärm beschreibt.

Mit "Heute gehen alle spazieren" ist Martin Brinkmann ein ebenso aufschlussreiches wie amüsantes Protokoll einer Identitätssuche zwischen sympathischer Selbstironie und manischer Melancholie geglückt. In einer vitalen Prosa, die unvermittelt zwischen poetisch und proletarisch wechseln kann, bringt er die Gemütslage seines Antihelden unaufdringlich, aber tiefenwirksam zur Sprache. Und da der Erzähler die "Aufzählung von Erlebnissen in chronologischer Reihenfolge für eine schlechte Angewohnheit" hält, neigt er selbst zu plötzlichen, kapitelweisen Zeitsprüngen. Diese dürften jedoch auch daher rühren, dass acht der insgesamt 20 Kapitel zuvor bereits einzeln in Zeitschriften publiziert wurden - erstaunlicherweise aber bildet das potenzielle Patchwork hier eine neue Einheit.

Dieses Zusammenspiel funktioniert nicht trotz, sondern gerade wegen der diversen Verweise auf seine Konstruiertheit: So wie der Erzähler sich permanent selbst unter die Lupe nimmt, reflektiert er auch seine Wirkung auf andere - inklusive der Leserschaft. Die ironischen Selbstreflexionen umfassen dann etwa Verweise auf etwas, "wovon ich weiter oben gesprochen habe" oder die Feststellung: "Im Wasser glitzerte die Sonne, und das sage ich nicht einfach so, die Sonne funkelte wirklich."

Mit alledem schafft Brinkmann etwas, was nur wenigen Autoren glaubhaft gelingt: einen Eindruck davon zu vermitteln, wie das Erwachsenwerden in der Jetztzeit aussehen kann, als Mixtur aus Desperatheit und Distanz, aus Angst, Aggression - und Aufgeklärtheit. Denn hinter dem Selbstspott darüber, "wie lächerlich ich mich benehme", steckt ja auch die Gewissheit, dass es ein "authentisches" Verhalten gar nicht gibt: "Irgendwas muss man ja darstellen." Und daher lauten die wahrhaftigsten Sätze dieses Buches: "Man gehört nicht dazu. Man beobachtet nur."

Erste Sätze:
"Wie leer doch die Autobahn, wie leer doch mein Kopf - mein Herz so schwer und mein Kopf so leer. Den Zivildienst hinter mir und noch nichts vor mir. Schläfrige Wolken am Himmel, die Leitungen der Strommasten wippen im Vorbeifahren langsam auf und ab, und ich denke an Sprungseile und an den bedächtigen Schimmer, den die Sonne über die Felder legt."

 






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