Madison Smartt Bell

Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview

Undefined; Roman. Zsolnay, ISBN: 3552048057

Madison Smartt Bell

im Gespräch mit Matthias Penzel

Madison Smartt  Bell: Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview

Dieses Buch Freunden weiterempfehlen.

Dieses Buch kaufen bei Amazon.de

Buy Madison Smartt Bell: Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview at Amazon.com (USA)

Weitere Buchbesprechungen bei Amazon.de.

Matthias Penzel: Douglas Coupland sagte einmal, er interessiere sich nicht für Balzac oder überhaupt irgend einen Autor, der vor 1930 veröffentlicht wurde. Seine Faustregel lautet: Bücher, in denen es keine Telefone gibt, interessieren ihn nicht. Aufstand aller Seelen ist Ihr erster Roman, der nicht in der Gegenwart spielt.

Madison Smartt Bell: "Diese Bemerkung von Douglas Coupland ist extrem dämlich. Als Santayana sagte, daß diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, dazu verdammt sind, sie zu wiederholen, benutzte er dafür, soweit ich weiß, kein Telefon. Dasselbe gilt für Stil und Technik... um nur zwei Beispiele zu nennen. Naja, vielleicht ist dieses Zitat von Coupland auch aus jeglichem Zusammenhang gerissen - mir ist das oft genug passiert... und manchmal erscheinen die klugen Sprüche, die man so abläßt, nur noch halb so klug, wenn sie einem wieder begegnen."

Matthias Penzel: Was hat Sie dazu inspiriert, diesen dreibändigen historischen Wälzer zu schreiben?

Madison Smartt Bell: "Geweckt wurde mein Interesse durch eine Faszination mit Toussaint L'Ouverture. Für meinen zweiten Roman recherchierte ich (1983) über Terrorismus. Da die Haitische Revolution so wahnsinnig blutrünstig war, begegneten mir einige Unterlagen darüber und schließlich eine kurze Biografie über Toussaint. Ich hielt einen Roman über seine Karriere für eine gute Idee, sah aber sofort, wie kompliziert das wäre (obwohl mir noch nicht klar war, wie kompliziert). Aber die Idee geisterte weiter durch meinen Kopf."

Matthias Penzel: Ihre früheren Arbeiten schienen oft, zumindest teilweise, von der Kindheit im ländlichen Tennessee inspiriert, sowie von folgenden Jahren des Nomadentums durch die Staaten und Europa, das Leben in Brooklyn und Baltimore. Aufstand aller Seelen bewegt sich davon fort. Wie lange hast du in Gedanken mit diesem Projekt gespielt, bevor du dich tatsächlich hingesetzt hast, es zu schreiben?

Madison Smartt Bell: "Eine ganze Weile natürlich. Ich dachte dauernd, es würde mein nächstes Buch, aber dann kam immer irgendwas dazwischen, was leichter von der Hand ging. Zwischen Projekten recherchierte ich immer ein bißchen. Ich machte mich schließlich daran, als ich Kalter Schlaf fertig hatte. Das müßte um 1989 gewesen sein. Ich habe eine Zeitlang gleichzeitig an Aufstand aller Seelen und Battery Park heimwärts (mit Kapiteln abwechselnd), dann Gas gegeben, um das letztere abzuschließen, da ich einen Scheck brauchte."

Matthias Penzel: Hast du mit Recherchen mehr Zeit verbracht als bei vorherigen Werken?

Madison Smartt Bell: "Allerdings... Es ist die Sorte Projekt, bei der die Recherche nie aufhört... das alleine ist ziemlich faszinierend. Ich habe damit immer noch nicht aufgehört. Es gibt immer noch mehr herauszufinden. Ein Vorteil ist, daß mein Französisch (zumindest auf Papier) seither um einiges besser geworden ist - die meisten Quellen sind in Französisch verfaßt."

Matthias Penzel: Mir scheint, daß in Aufstand aller Seelen Gewalt detailierter und farbenfreudiger dargestellt wird als in deinen früheren Romanen und Short stories (beispielsweise die Szene, wo einer Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird, die Folter, bei der mit einem Korkenzieher ein Augapfel aus einem Kopf gezogen wird). Siehst du das ähnlich?

Madison Smartt Bell: "Ja, die Gewalt in Aufstand aller Seelen ist wesentlich extremer als alles, was ich zuvor geschrieben habe... aber andererseits basiert das alles auf Tatsachen. Vieles, worüber ich gelesen habe, habe ich dabei immer noch weggelassen. Es ist wichtig, daß Menschen dies einander angetan haben, es zeigt, könnte man sagen, um wieviel es den Menschen ging. Es gab bestimmte Gesten, Paraden mit aufgespickten Kindern zum Beispiel, die klar verdeutlichen, daß es in den Intentionen Völkermord ging. Ich dachte, daß es letzten Endes nötig ist, diese Bilder zu zeigen, da sie die wüstesten Aspekte des Kampfes verdeutlichen."

Matthias Penzel: Ist der Einfluß von Bret Easton Ellis' American Psycho - im besonderen der Gewaltbeschreibungen darin - weitreichender als man es im literarischen Establishment wahrnimmt (oder zugibt)?

Madison Smartt Bell: "Ich fragte mich, ob hier bei uns Vergleiche zu American Psycho kämen, aber das war bislang nicht der Fall. Ich hielt das Buch, als ich es das erstemal las, für lausig, für schlapp formuliert - was überraschte, da Ellis zumindest als kluger Stilist aufgefallen war - und im Grunde genommen nicht mehr als ein zynischer Versuch, nekrophile Pornografie (ein Genre, das in den Staaten immer schon populär ist; das Spektrum geht von Police Gazette bis Kaltblütig) auf ein gehobeneres, 'literarisches' Level zu heben. In diesem Sinne trabte Ellis hinterher, war er keineswegs anderen voraus - abseits der Belletristik gibt es in jedem Lädchen etliche Bücher in dem Stil. Außerordentliche Gewalt kommt in der Pop-Unterhaltung so oft vor, daß man sich wirklich bemühen muß, um damit noch aufzufallen, denke ich...

Ich merke aber, daß ich mich an American Psycho wesentlich besser erinnere, als ich das erwartet hatte - ich rechnete damit, es ganz schnell vollends zu vergessen. Vielleicht ist es als Satire ernstzunehmen, frage ich mich. Einige der Szenen waren, wie ich mich jetzt erinnere, wirklich sehr komisch. Ich halte Ellis für wirklich talentiert, obwohl er das, wie ich denke, bisher meistens nicht in die richtige Bahn gelenkt hat...

Aufstand aller Seelen ist allerdings keine Satire. Das wäre ein Riesenunterschied zu American Psycho... nur einer. Ich wußte, daß es teilweise sehr schockierend wäre, berichtete aber andererseits nur über das, wovon ich gelernt hatte, daß es tatsächlich geschah. Außerdem ließ ich mich dabei auf eine gute alte Aristoteles'sche Katharsis."

Matthias Penzel: Sind die Kommentare über Bret Easton Ellis als diplomatische Drahtseilakrobatik zu verstehen - da du ihn eigentlich verachtest?

Madison Smartt Bell: "Nein, nein, ich würge hier keineswegs Magensäure runter, wenn ich mich über Bret Ellis auslasse, wirklich nicht. Um kurz darauf einzugehen: Ja, Unter Null wurde vermutlich völlig überschätzt (wenige Bücher können solch einem Flächenbrand an Hype standhalten), aber man sollte sich vor Augen halten, daß er das Ding 19jährig fertigstellte - und es war eine sehr ehrgeizige Arbeit... Ich denke, es wäre nur fair, zu sagen, daß er zu jenem Zeitpunkt ein Wunderkind war. Neben anderem war Unter Null, würde ich sagen, ein sorgfältig artikulierter Hilfeschrei. Nur kam keiner, um Ellis zu helfen - stattdessen wurde er, würde ich sagen, während der folgenden Jahre recht gnadenlos und zynisch ausgenutzt. Sein zweites Buch habe ich nicht gelesen. Ein Eindruck war, daß sich sein Handwerk in American Psycho drastisch verschlechtert hatte. Sein viertes Buch kenne ich nicht. Das Problem mit Wunderkindern ist, daß viele von ihnen früh ausbrennen. Falls Ellis ausbrannte, sollte hinzugefügt werden, daß viele Leute keineswegs verlegen waren, Sprit ins Feuer zu schütten. Ich schätze aber, daß die Chancen für ihn, als Künstler zu überleben immer noch 50/50 stehen, genauso wie die Wahrscheinlichkeit, daß er mehr Talent und Willen hat, etwas Authentischeres auszusagen als der durchschnittliche sogenannte 'Brat-packer' (sind übrigens alle ein bißchen grau um die Schnauze geworden, nee?)."

Matthias Penzel: Waren die Gewaltszenen in Aufstand aller Seelen auch dazu gedacht, einigen endlos gehypten Brat-Pack-Schmierfinken zu zeigen, wo der Spaten hängt - und wer es besser kann?

Madison Smartt Bell: "Wen kümmert's? Ich schreibe primär für mich, denke ich, und sicherlich nicht, um anderen Schreibern etwas vorzumachen. Das Unterholz wird immer voll von Scharlatanen und Mittelmäßigen sein (manche davon äußerst erfolgreich). Aber es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken."

Matthias Penzel: Geht es dir beim Schreiben jemals auch um solche Eitelkeiten - wie 'Mal sehen, wie die Kritiker hierauf reagieren, was das Publikum hiervon hält'?

Madison Smartt Bell: "Selten, und dann nur auf sehr oberflächliche Weise."

Matthias Penzel: Sollte man solche Eitelkeiten bekämpfen? Was sollte ein Autor, was muß er bekämpfen?

Madison Smartt Bell: "Ich befürchte, daß fast alle Autoren, wahrscheinlich alle Künstler, ungeheuer nach mehr und mehr Anerkennung dursten, nach Lob und Belohnung verlangen, gleichgültig, wieviel sie erhalten. Ich bin dafür genauso anfällig wie jeder andere, aber ich sehe es als etwas, gegen das ich mich auflehne.

Was das Schreiben mit gewissen Publikumsreaktionen im Hinterkopf betrifft - Nein, das mache ich nicht. Mit Sicherheit denke ich nicht an ein Publikum aus lauter Rezensenten. Ich bin mir der wahrscheinlichen Reaktionen des Lektors, der an allen meinen Büchern gearbeitet hat - Cork Smith - bewußt, und in letzter Zeit auch ein bißchen der von Sonny Mehta, der unter anderem ein sehr gewiefter Textredakteur ist. Ich weiß, daß ich früher oder später deren Fragen beantworten muß - aber ich lasse mich beim Schreiben nicht wirklich davon beeinflussen.

Dann bin ich mir manchmal auch darüber bewußt, daß es alle möglichen, umstrittenen Reaktionen hervorrufen kann, wenn ein Weißer über eine Revolution von Schwarzen schreibt... aber auch dieser Gedanke stand mir beim Schreiben nicht sonderlich im Weg - jedenfalls so weit ich darüber Kontrolle hatte."

Matthias Penzel: Nach den in Aufstand aller Seelen beschriebenen Grausamkeiten, den Plündereien und Brandstiftungen, den "bis auf Fetzen vergewaltigten" Frauen, der verwaschenen Linie, wo Rebellion und Protest gegen Ungerechtigkeit zu noch mehr Gewalt und Ungerechtigkeit eskaliert, wunderte ich mich: Warum? Was ist der Grund dafür?

Madison Smartt Bell: "Es geht darum, daß Menschen das alles sehr, sehr ernst genommen haben. Sie wollten nicht nur ihren Feind besiegen, sie wollten ihn von diesem Planeten wegradieren.

Man versteht nicht wirklich, was bei der Haitischen Revolution passiert ist, wenn man sich nicht zwei fundamentale Fragen vor Augen hält: Wer zählt als menschliches Wesen? Und: Was ist überhaupt ein menschliches Wesen?

Vor der Französischen und der Amerikanischen Revolution war man sich keineswegs darüber einig, daß alle Menschen ein natürliches Recht auf Leben, Freiheit, Glück etc. zu genießen hatten. Bei der Haitischen Revolution wird dieser Umstand dadurch kompliziert, daß die Angehörigen dreier unterschiedlichen Rassen sich nicht einig darüber sind, wer überhaupt als Mensch gelten kann. Viele Europäer hielten Afrikaner für das Bindeglied zwischen dem Affen und dem Menschen (was es ihnen erleichterte, Sklaverei zu verteidigen). Die Europäer hielten die gens de couleur außerdem für etwas nicht ganz Menschliches (trotz auf der Hand liegenden Verwandtschaft, was eines der großen Kuriositäten der ganzen Geschichte ist). Was die Schwarzen betrifft, schätze ich, daß sie die Europäer nicht als Menschen wie sich selbst eingschachätzt haben, sondern als eine mächtige, gemeine Gattung von Monstern. Sobald man sich dieser Situation bewußt ist (was bei mir eine gewisse Zeit beanspruchte), kann man verstehen, warum sich die Menschen so verhielten."

Matthias Penzel: Siehst du bei den im Buch beschriebenen Phänomenen Zusammenhänge mit Bosnien (zeigend, daß solche Gewalttaten nicht so neu sind, daß heute vielmehr die Art und Weise, wie darüber berichtet wird, ausgeklügelter ist) oder denen der Aufstände in Los Angeles? Diese Bilder kamen mir oft in den Sinn - sind das zufällige Parallelen, mein Mangel an Phantasie oder hast auch du beim Schreiben an diese Bilder gedacht?

Madison Smartt Bell: "Ich habe keine Vergleich mit dem Bürgerkrieg in Bosnien gemacht, auch im Zusammenhang mit dem Roman nicht daran gedacht (Zum einen habe ich einige Zeit, bevor die Situation in Bosnien so explodierte, an dem Buch gearbeitet, zum anderen geht es da nicht um einen Krieg zwischen Rassen, wenn es wahrscheinlich auch einige strukturelle Ähnlichkeiten gibt). Yeah, es ist in Bosnien Völkermord und... ich finde es wahnsinnig deprimierend, ein Problem, das sich nie lösen lassen wird. Und ich habe meinen Kopf aus diesem Grund mehr oder minder in den Sand.

Was die Unruhen in L.A. und so betrifft: Daran habe ich mit Sicherheit gedacht (in der ersten Fassung des Kodas gab es Verweise darauf sowie auf frühere Rassenunruhen in den USA). In den USA findet ein Rassenkrieg in Zeitlupe statt; das ist an auf der Straße stattfindenden Verbrechen genauso erkennen wie an polizeilichen Maßnahmen, die manchmal zu übergreifenden Unruhen führen. Wir haben hier mit den Problemen zu tun, die eine ehemalige Sklavengesellschaft so mit sich bringt; während das bei uns im Schneckentempo abläuft, ging das in Haiti wesentlich schneller. Was uns hier betrifft, schätze ich, sind wir von einer vernünftigen Lösung immer noch sehr weit entfernt. Die Reaktionen auf das O.J. Simpson-Urteil belegen das."

Matthias Penzel: Ist physische Gewalt als Form des Widerstands jemals gerechtfertigt?

Madison Smartt Bell: "Sicher. Ich kann richtig enthusiastisch nach den Befriedigungen von Revanche verlangen (obwohl ich auch imstande bin, Schuldgefühle zu entwickeln, sobald ich die Revanche eingelöst habe). Als ich klein war, flog einmal ein Hahn in mein Gesicht, um mir meine Augen auszupicken (er hatte es seit Wochen auf mich abgesehen), und mich schließlich völlig blutüberströmt zurückzulassen. Ich durfte zusehen, wie ihm der Hals umgedreht wurde. Wir aßen ihn am selben Abend. Bis auf den heutigen Tag kann ich mich an kein Essen erinnern, das mich mehr zufriedenstellte.

Ich neige also dazu, an Auge um Auge, Zahn um Zahn und all das zu glauben, obwohl ich auch genug von der christlichen Ethik in mir trage, um das als eine Charakterschwäche zu sehen. Ich schätze, ich wäre fähig, die meisten der im Buch beschriebenen Dinge zu tun, unter den entsprechenden Umständen. Unter anderen Umständen hoffe ich, wäre ich auch fähig gewesen, dem zu widerstehen... Gewalt istz ein gefährliches Instrument, das letzten Endes immer dazu dient, sich selbst mehr als dir zu dienen, aber manchmal sieht man keinen anderen Ausweg."

Matthias Penzel: Nicht nur wegen American Psycho, sondern auch wegen Iain Banks' VERSCHWOREN, fast allem von James Ellroy, auch Ian McEwans Sudelei in UNSCHULDIGE, frage ich mich, ob diese Zunahme an detailliert dargestellter Gewalt in der Gegenwartsliteratur darauf zurückzuführen ist, daß unsere Zivilisation aus den Angeln gerät, daß alle nach mehr Blut dursten, oder daß das Kino im Laufe dieses Jahrhunderts die Sinne dermaßen betäubt hat, daß es immer krasser zugehen muß, um das Publikum überhaupt noch aus der Reserve zu locken - oder zu unterhalten? Oder was sind die Gründe für immer gröbere Gewaltdarstellungen in der Literatur?

Madison Smartt Bell: "Ich habe nicht alle der erwähnten Bücher gelesen, denke aber aufgrund derer, die ich kenne, daß das gilt, was ich schon über nekrophile Pornografie mit unterschiedlich gebildeter Herangehensweise gesagt habe. Es hat für viele etwas Befriedigendes, genauso an Mord und Totschlag zu denken wie an Vergewaltigung - für ein paar weniger (siehe Ted Bundy, etc.) hat die Tat selbst etwas Befriedigendes. Warum das so ist, weiß niemand. George Garrett sagt, es sei Teil der animalischen Natur, die in Menschen weiter existiert. Eine bessere Antwort fällt mir dazu auch nicht ein.

Ich glaube nicht, daß die Gewalt in unserer Unterhaltung allzu viel mit der Realität zu tun hat (indirekt vielleicht, wie im Falle der Morlocks, die in New York U-Bahnwaggons angezündet haben, weil sie das im Kino gesehen hatten). Auf der Suche nach neuen Thrills wird das stärker. Alle Gesetze gegen Darstellungen von Sex wurden vor zwanzig Jahren abgeschafft. Jetzt müssen die dargestellten Verhaltensmuster immer bestialischer und gewaltsamer werden, damit es frisch bleibt und andere aus der Reserve lockt. Ziemlich widerlich, wenn man sich das mal überlegt."

Matthias Penzel: Welche anderen Gründe gibt es für diese Inflation der Gewalt in zeitgenössischer Literatur?

Madison Smartt Bell: "Was meinen Gebrauch von Gewalt in Belletristik betrifft, schließe ich mich Flannery O'Connor an, die sagt, daß es nicht darum geht, Gewalt um seiner selbst willen darzustellen, sondern, um etwas anderes klarzumachen, meistens ein moralisches Problem, bei dem es um Leben oder Tod geht - was ja im Leben tatsächlich oft genug vorkommt."

Matthias Penzel: Zu deinen früheren Werken. Washington Square, N.Y. erzählt die Geschichten von fünf Charakteren. Ungefähr hundert Jahre früher schrieb Henry James Washington Square, einen Roman über drei Charaktere; sein Thema war das des Jungen gegen die Tyrannei des Älteren... Kanntest du Henry James' Buch und die Parallelen, als du - 24jährig - Washington Square, N.Y.?

Madison Smartt Bell: "Welche Parallelen? Ich sehe kaum welche. Ich hatte Washington Square vermutlich ein Jahr vorher gelesen (recht locker und leicht verdaulich für Herrn James), war aber zu der Zeit vor allem beeindruckt, wie drastisch sich sein New York von meinem unterschied - in James' Roman führt man noch oberhalb von 67th Street die Kühe zum Weiden, Um ein simples Beispiel zu nennen.

Washington Square, N.Y. wurde unter dem Titel The Storytelling Stone geschrieben, was mir zugegebenermaßen immer noch besser gefällt - diesen Titel wischte aber der Verleger vom Tisch, da er fand, daß das zu sehr nach einem Kinderbuch klingt. Mein Lektor, Cork Smith, wollte es Washington Square nennen, um den Vergleich zu James initiieren. Ich hielt das für eine interessante Idee, hatte aber Angst davor. Ich fand, daß das letzten Endes zu viel Eitelkeit und Hybris von meiner Seite wäre, als daß ich mich mit dem Meister... auf so freche Weise anlegen würde. Gleichzeitig focht ich gegen wesentlich doofere Ideen an (einer aus der Marketing-Abteilung pochte darauf, es Fufue for Fuzz-Box and Sax zu nennen). Als nur noch vierundzwanzig Stunden bis zur Drucklegung blieben, verbrachte ich einen Abend mit einem Jazz-vernarrten Freund, mit dem ich mir Musik anhörte, die mehr oder minder mit dem Buch zu tun hat, und suchte nach dem Titel eines Jazz-Stückes, der allgemeiner - und vermutlich offensichtlicher - gewesen wäre. Deshalb bereue ich es bis heute, daß wir nicht daran dachten, es The Shoes of the Fisherman's Wife are some Bad-Ass Slippers zu nennen. Ich hätte noch eine Mingus-Szene für Porco reinschreiben können, und die Sache wäre gegessen gewesen."

Matthias Penzel: Wie denkst du heute über Washington Square, N.Y.?

Madison Smartt Bell: "Ich bin mir nicht sicher; es ist lange her, seit ich es das letzte Mal gelesen habe. Ich schätze, viel davon ist einigermaßen okay. Es gab ein paar strukturelle Probleme, die damit zu tun hatten, daß es ohne jeglichen Plot-Plan geschrieben wurde... mehrere unterschiedliche Schlüsse schienen letzten Endes nötig etc. Ich schätze, daß es besser ist als einige Roman-Debüts, aber nicht so gut wie andere."

Matthias Penzel: Warten auf das Ende der Welt ist, was Plot und Struktur betrifft, wesentlich besser, ausgereifter als das Debüt. Was hat dich durch diesen düsteren Epos von geradezu russischen Proportionen bei Sinnen gehalten?

Madison Smartt Bell: "Dostojewski. Mich haben viele Schriftsteller beeinflußt, wenn ich aber einen hervorheben müßte, dann wäre er das. Ich habe die großen Romane während eines Kurses über Dostojewski, den Joseph Frank in Princeton gab, gelesen. Seither hatte ich vor, einen zeitgenössischen Roman mit einem Protagonisten wie Kirilov zu schreiben. Im US-amerikanischen Literatur-Establishment ist niemandem aufgefallen, wieviel Warten auf das Ende der Welt mit Die Dämonen zu tun hat (im Klartext: Sie sahen keinen Zusammenhang) - aber in England sprang es dem Kritiker vom 'Times Literary Supplement' sofort ins Auge (und er verriß mich umgehend)."

Matthias Penzel: Keins deiner Bücher kam auch nur annähernd an die brodelnden, düsteren Atmosphären, die auf immer tieferen Ebenen in undurchschaubare Tunnel und unerforschte Untergründe vortasten und -dringen. Keins ist vergleichbar mit diesem Mischmasch der scheinbar zufälligen Anekdoten, die in einem glasklaren Plot und der Geschichte totalen Wahnsinns kulminieren. Hast du je daran gedacht, dich noch einmal an Vergleichbarem zu versuchen? Oder war Warten auf das Ende der Welt ganz schlicht ein weiteres Projekt, das du schreiben und abhaken wolltest?

Madison Smartt Bell: "Ich wollte meine Bücher immer so unterschiedlich wie irgend möglich halten - niemals dasselbe Buch zweimal schreiben, oder Variationen eines bestimmten Themas. Rückblickend erscheint mir heute, daß die ersten einige Ähnlichkeiten aufweisen. Das war mir damals aber nicht bewußt... Was das Abhaken betrifft - tja, auch mir gefällt Warten auf das Ende der Welt recht gut, als ich letzten Herbst, während der Promo-Tour für Aufstand aller Seelen aber wieder einmal DIE DÄMONEN las, um bei Verstand zu bleiben, da wurde mir klar, daß... Welten dazwischen liegen. Ich muß schon sagen, ich war einigermaßen beeindruckt von meiner Blauäugigkeit damals; auch nur davon zu träumen, je so ein Buch zu schreiben... Von abgehakt kann deshalb eigentlich nicht die Rede sein."

Matthias Penzel: Ein sauberer Schnitt ist - für deine Verhältnisse - fast ein Krimi.

Madison Smartt Bell: "Mit Ein sauberer Schnitt wollte ich mich an etwas versuchen, das ein ganzes Stück anders sein sollte als die beiden vorherigen Bücher. Ich wollte immer herausfinden, wie man einen Plot entwickelt, der geradeaus, ohne Umschweife und mit linearem Momentum entwickelt wird, im Gegensatz zu den geometrischen Pfeilen und Subplots oder Konstruktionen von früher. Das war also mein Versuch, so etwas zu machen. Ich würde nicht sagen, daß es mein einziger Versuch Richtung Krimi war - Warten auf das Ende der Welt und Washington Square, N.Y. sind auf ihre Art auch Krimis, außerdem fand ich immer, daß ja auch Dostojewski in mancher Hinsicht ein Autor von Krimis und Thrillers war (weshalb Nabokov die Nase über ihm rümpft, etc.).

Ein sauberer Schnitt langweilte mich ein bißchen gegen Ende. Ich denke, daß es im Sinne einer spannenden Story, die man einmal schnell liest funktioniert - es hat ungefähr die richtige Länge für einen Linienflug innerhalb der USA. Aber die literarischen Vorzeichen darin empfinde ich heute als ziemlich peinlich. Es ist das einzige meiner Bücher, das mir eigentlich mißfällt - aber das ist meine Undankbarkeit, denn es ist auch das Buch, durch das ich in Europa 'bekannt' wurde; und es brachte mir einiges an Geld für Filmoptionen ein. Ich glaube immer noch, daß es das Zeug zu einem brauchbaren Film hätte. Für Thomas Kuchenreuther in München habe ich ein Drehbuch dafür geschrieben, wodurch ich die Möglichkeit hatte, einige der Schwächen, die ich im Roman sah, wegzubügeln. Aber ich fürchte, das Projekt hängt derzeit fest."

Matthias Penzel: War das eine einmalige Sache?

Madison Smartt Bell: "Ich dachte, ich würde ein Buch wie Ein sauberer Schnitt nicht wieder machen, aber auf seine Weise ist Kalter Schlaf so etwas wie der Versuch, Ein sauberer Schnitt richtig yu machen - mit einem Ich-Erzähler, der in den Plot eines Thrillers verwickelt ist, ohne daß es allzu linear entwickelt wird."

Matthias Penzel: Einige Deiner Romane und Short stories handeln von Drogenabhängigkeit und davon, wie Menschen nach Heroinentzug, versuchen, ihr Leben aufzufüllen, die Dämonen zu verscheuchen... Keine der Stories behandelt auch nur ansatzweise die Gründe für Drogenkonsum, die 'angenehmeren' Seiten der Kicks. Auch in Rückblenden werden die glamourösen, dekadenten Aspekte von Drogenkonsum verschwiegen - warum?

Madison Smartt Bell: "Was den Mangel an Glamour betrifft, mag das daran liegen, daß ich mich nie sonderlich für Kokain interessiert habe. Heroin ist eine wesentlich weniger glamouröse, nicht ganz so gesellschaftsfähige Droge. Was die Wiederkehr des Themas betrifft... tja, ich habe während meiner Zeit in New York meistens mit und Tür an Tür mit Drogensüchtigen gelebt. Genauso wie du vielleicht auch, habe ich einen Haufen Freunde, die viel extremere Drogenprobleme hatten als ich. Außerdem schätze ich, daß ich mit dem ausgestattet bin, was man heute als 'Sucht-Charakter' bezeichnet, wenn ich bisher auch nur von Zigaretten entziehen mußte (obwohl ja jüngste Forschungsergebnisse darauf hindeuten, daß das eigentlich als ernste Droge gerechnet werden sollte, was physische Abhängigkeit etc. betrifft). Das wäre also noch ein Grund für mein Interesse daran.

Was die ursprünglichen Gründe für Drogenabhängigkeit als weitreichendes soziales Problem betrifft - das handle ich detaillierter in Kalter Schlaf ab. Siehe Seite 125f. der Bloomsbury Ausgabe. Nicht atemraubend originell, sicher - ich versuchte da, es in das kosmologische Schema der Hermeneutik, die das Leben des Erzählers beherrscht, einzuordnen..."

Matthias Penzel: Die Short-story-Sammlung Heute ist ein guter Tag zum Sterben dokumentiert nicht nur diese Faszination mit dem harten Stoff und Drogisten auf Entzug, sondern auch ein anderes wiederkehrendes Thema in deinen Arbeiten - das des (US-amerikanischen) Südens (und zwangsläufig des fortbestehenden Rassismus trotz aller Schönheit des Landes). Alle Stories über den Süden warten mit einer anderen, einer gemächicheren Gangart auf... Inwieweit ist das beabsichtigt?

Madison Smartt Bell: "Der Unterschied des Tempos ist vermutlich in keiner Weise geplant - nur ein Spiegel der Natur, würde ich sagen. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und habe daher sowohl die langsamere Gangart des ländlichen Lebens genauso in mir wie das Rucken und Zucken urbaner Situationen..."

Matthias Penzel: Und dann sind da noch - natürlich - die wiederkehrenden Brücken. Ein sauberer Schnitt erreicht auf der Williamsburg Bridge seinen Höhepunkt, an anderen Stellen finden sich Oden und Tribute daran, ganze kleine Liebesgeschichten über ihre Parallelen, die architektonisch besondere Schönheit von Brooklyn Bridge in Jahr des Schweigens; dann wäre da noch die Short story The Forgotten Bridge (wieder Williamsburg Bridge, die auch in Auf der Suche nach Natasha wieder aufkreuzt). Warum ist dieses Thema - der Brücken, die meistens Manhattan mit Brooklyn verbinden - aus Arbeiten jüngeren Datums verschwunden? Hat man angefangen, dich damit aufzuziehen, ist die Metapher als solche ausgetrocknet oder gibt es in Baltimore weniger Brücken, die solche Gedanken ermutigen?

Madison Smartt Bell: "Ich glaube, es ist immer die Williamsburg Bridge - kann mich nicht an die Brooklyn Bridge in Jahr des Schweigens erinnern, die du da erwähnst. Tom Alderson, ein irgendwie unterschätzter Romancier, der auch aus dem Süden kommt und zur etwa selben Zeit wie ich in New York lebte, sagte einmal zu mir: 'Diese Brücke ist dein weißer Wal'. Zumindest während jener Phase meiner Karriere war das zutreffend. Ich versuchte, sie überall einzubauen, wo sich Gelegenheit dazu ergab; in einen Zusammenhang im ländlichen Tennessee ließ sie sich natürlich nicht so leicht einbauen, ebenso wie im Haiti des 18. Jahrhunderts etc. Es ist diese bestimmte Brücke mehr als Brücken allgemein, die es mir angetan hat. Ich habe jahrelang an ihrem Fuß verbracht, der J-Train nahm mich zu meiner Haltestelle in Brooklyn mit, wenn ich pleite war oder einfach das Ticket aufsparen wollte, wanderte ich auch oft darüber, manchmal war auch der Hauch von Gefahr das Ausschlaggebende oder wegen die schlichte Schönheit - manchmal auch alle diese Gründe zusammen. Ich schrieb immer wieder darüber, um sie als Ganzes oder in all ihren Phasen einzufangen - auf ihre eigene Weise ist sie eine unerschöpfliche Resource für mich. Es ist jetzt aber schon Jahre her, seit ich New York verlassen habe, und jetzt schreibe ich nicht mehr so viel über die Stadt."

Matthias Penzel: Jahr des Schweigens ist, trotz straffer Konstruktion, wieder ein Ritt durch unterschiedliche Level und Lagen von Rückblilcken und Erinnerungen. Was war hier die Prämisse? Ging es dir darum, ein bestmögliches kaleidoskopisches, cuíneastisches Mosaik zu entwerfen?

Madison Smartt Bell: "Ah - eine Illustration sollte das am besten veranschaulichen. Die Struktur von Jahr des Schweigens ist am besten mit einer Illustration darzustellen. Es geht um die Wogen und Wellen, die ein Todesfall auslöst. Ich hatte lange den Plan, über die weiter reichenden Folgen zu schreiben, die der Tod eines einzelnen auf andere hat - es sind eben Wellen, die nach außen hin immer schwächer werden. Dann überlegte ich mir, daß das Zentrum dieser Wogen, der Tod in der Mitte und nicht am Anfang des Buches sein sollte. Dann kam mir die Idee, das zentrale Kapitel als Achse einzusetzen, an der sich die anderen Kapitel jeweils spiegeln. Daher sind die Kapitel 1 und 11, 2 und 10, 3 und 9 als Paare zu verstehen, die alle gewisse formale Richtlinien gemeinsam haben; wie die Erzählweise in erster oder dritter Person, außerdem bestimmte Kontinuitäten für den Plot und thematische Qualitäten, die jeder selbst entdecken kann.

Das andere formale Ziel des Projekts war, einen aus lauter Short stories bestehenden Roman zu schreiben, eine Mode, die damals fast zu einem kleinen Mini-Genre wurde (siehe Louise Erdrichs Liebeszauber, Beans of Egypt, Maine von Carolyn Chute, Picknick am Rande der Wüste von Harriet Doerr, etc.). Ich hatte den Eindruck, die meisten dieser Beispiele begannen als Erzählungen und wurden erst später zu Romanen zusammengeflickt, weshalb sich manche Sektionen wie eigenständige Kurzgeschichten lesen, andere wie Romanauszüge. Mein Plan war, ein Buch von Grund auf so zu gestalten, daß jede Einheit darin sowohl als Geschichte in sich als auch als Teil des Romans fungieren würde. Ich glaube sogar, daß mir das gelungen ist - so fesch und formal ausgeklügelt wie sonst was, woran ich mich bisher versucht habe."

Matthias Penzel: In Jahr des Schweigens treten auch die Larkin-Brüder aus Warten auf das Ende der Welt wieder auf. Schwebte Dir dabei so etwas vor wie Balzacs Comédienne humaine - oder Salingers Glass-Familie aus Franny und Zooey, Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute/Seymour wird vorgestellt, und Neun Erzählungen?

Madison Smartt Bell: "Mein Vorbild war hierbei eher Faulkner als Balzac, ganz einfach, weil ich Faulkner besser kenne. Beides wäre aber denkbar. Ich glaube, daß fiktive Charaktere in parallelen Universen weiterleben können (insofern sie nicht gestorben sind) und deshalb in späteren Werken wieder auftreten dürfen.

Salinger als Einfluß für die Larkins oder sonstwas möchte ich mit aller Entschiedenheit abweisen. Mit Holden Caulfield komme ich, gerade noch, klar, sämtliche Mitglieder der Glass-Familie sind aber viel zu krankhaft und auf pathetische Weise zuckersüß, was meinen Geschmack betrifft."

Matthias Penzel: Auch Charlie in Battery Park heimwärts kommt wie ein entfernter Verwandter der Larkins rüber - ist das lediglich meine Meinung oder hast du da mit dem Gedanken gespielt, mindestens einen Cousin zu rehabilitieren?

Madison Smartt Bell: "Sauber ausgemacht, was Battery Park heimwärts betrifft; Charlie ist in der Tat der Charles Mercer von Warten auf das Ende der Welt. Es gibt einige handfeste Belege wie die Narben der von seinen Fingern entfernten Tätowierungen. Er war immer ein Charakter, den ich erneut einsetzen wollte; so als Gag für Insider. Du bist scheinbar der erste, der das wahrgenommen hat oder zumindest der erste, der es mir sagt (du mußt demzufolge ein un obsédé vrai sein...)."

Matthias Penzel: Dein 'Südstaaten-Roman' Soldier’s Joy, der 1989 mit dem Lillian Smith Award ausgezeichnet wurde, ist das einzige deiner Bücher, das noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Warum?

Madison Smartt Bell: "Ob noch was daraus wird, hängt zum Teil vermutlich vom Erfolg von Aufstand aller Seelen ab. Der Goldmann Verlag verhielt sich mir gegenüber lange sehr loyal und war auch großzügig - vielleicht allzu großzügig aus der Sicht der Buchhaltung. Gegen Soldier’s Joy sträubten sie sich, glaube ich, wegen der Länge und der Übersetzungsschwierigkeiten, die bei einem Roman, der wesentlich weniger deutsche Leser ansprechen würde als Stories aus New York, vermutlich nicht zu rechtfertigen wären."

Matthias Penzel: Da die Elemente des Plots von Kalter Schlaf so sauber und strategisch plaziert sind, frage ich mich, ob das dein erster auf einem Computer geschriebener Roman war?

Madison Smartt Bell: "Interessant, daß du dahingehend spekulierst, denn das war tatsächlich der Fall. Alle meine vorherigen Bücher habe ich mit der Schreibmaschine getippt. Ich benutze aber nur einen Computer, um mir die Zeit des erneuten Abtippens zu sparen - ich tendiere ohnehin nicht dazu, allzu viel Zeit mit Revisionen zu verbringen, außer wenn nötig. Ich schreibe ein Kapitel als erstes mit der Hand, dann tippe ich es, drucke es, poliere den Ausdruck, drucke es noch einmal und lege es in einen Kasten, bis der voll ist. Für den Aufbau von Kalter Schlaf habe ich keine Computer-Funktionen eingesetzt... Vielleicht gab es unbewußte Einflüsse. Bewußt stand ich unter dem Einfluß einiger anderer Bücher mit ähnlich präzisem Aufbau: Unter dem Vulkan, The Stars at Noon (Denis Johnson), The Horse's Mouth (Joyce Cary), Janine, 1982 (Alasdair Gray)."

Matthias Penzel: In einem von Justin Cronin auf dem Internet veröffentlichten Interview sagst du, daß Kalter Schlaf für dich sowohl Meisterwerk als auch Meisterflop ist. Geriet es letzten Endes allzu perfekt und präzise?

Madison Smartt Bell: "Ich halte Kalter Schlaf für das beste meiner ersten Bücher, also bis Aufstand aller Seelen. Es ist der Abschluß eines Trends und der Höhepunkt von etwas, woran ichmich in allen vorherigen Büchern versucht habe... allen haben sie eine gewisse spirituelle Suche gemeinsam. Grob betrachtet war Kalter Schlaf eine Rückkehr zu Ein sauberer Schnitt - will sagen, der Versuch, einen Roman linear nach vorne zu entwickeln mit dem Plot eines Thrillers, der mich beim Schriebn trotzdem nicht zu Tode langweilt - wie es bei Ein sauberer Schnitt der Fall war... Es nimmt einen beim ersten Mal wohl so mit wie Ein sauberer Schnitt, offenbart aber, denke ich, auch beim wiederholten Lesen immer wieder Neues.

Von handwerklichen Feinheiten abgesehen, hatte Kalter Schlaf auch mehr mitteilenswerte Inhalte, wie ich fand... als mich die Leidenschaft packte, mich für Brunian Hermetic gnosis als der richtigen und vernünftigsten Religion unserer Zeit einzusetzen (was sie auch wirklich ist... nicht, daß das irgendwen interessieren würde)... Wenn ich es also als Meisterflop bezeichne, dann in dem Sinne, daß ich damit so viel Erfolg hatte wie Bruno - ich sagte exakt, was ich sagen wollte, erzielte damit aber keine Wirkung. Unterm Strich war er vielleicht erfolgreicher, denn die Herrscher seiner Zeit verstanden ihn immerhin gut genug, um sich klarzumachen, daß sie ihn besser um die Ecke bringen... was sie auch gemacht haben. Stillschweigen ist dagegen, auf lange Sicht, die tödlichere Strafe."

Matthias Penzel: Kann man Schreiben unterrichten?

Madison Smartt Bell: "Nicht wirklich. Die meisten Autorenseminare in den USA begnügen sich damit, den Leuten die Gelegenheit zu geben, sich das Schreiben selbst beizubringen; in möglichst netter Umgebung und in Gegenwart einigermaßen intelligenten Publikums, das auf die Arbeiten reagiert. Und das ist genug. Ich selbst bin ein Produkt dieses Systems, und ich unterrichte darin. Obwohl ich denke, daß dabei nicht immer alles gut ist, halte ich es für einen brauchbaren Weg, Studenten die Möglichkeit zu geben, dabei zu sehen, was machbar ist und was nicht. Manche Lehrer/Gurus/Sektenführer gehen weiter, und das beinhaltet dann Techniken von Hirnwäsche, Gedankenkontrolle und vielen anderen, gefährlichen Eingriffen in die psychische Intimsphäre von Leuten - so wie ich das sehe."

Matthias Penzel: Woran arbeitest Du zur Zeit?

Madison Smartt Bell: "Mein Plan (für die nächsten zehn Jahre) ist, zwischen den langen Bänden der Haiti-Serie kleinere Romane der Gegenwart einzuschieben - eine davon, Ten Indians, erscheint in den USA diesen Herbst. Es ist ein sehr kurzes Buch, das ich nach Aufstand aller Seelen quasi zum Luftholen geschrieben habe, einfach, um mit unserer Zeit in Verbindung zu bleiben - wenn ich mich während der nächsten fünfzehn Jahre nur im 18. Jahrhundert aufhalte, käme ich dabei sonst noch wie Rip Van Winkle raus.

Außerdem habe ich auch schon ein paar Sachen für THE WAR OF KNIVES geschrieben, was der mittlere Band der Haiti-Trilogie wird. Ich muß dafür noch viel recherchieren. Ich hoffe und bete, daß die politische Situation in Haiti nocht kollabiert, in erster Linie für die Leute, aber auch für mich, denn ich würde dort gerne noch etwas Zeit verbringen - inzwischen habe ich da einige wesentlich bessere Verbindungen und Quellen vor Ort; und es gibt noch so unheimlich viel zu lernen."

Matthias Penzel: Die Kurzgeschichtensammlung Heute ist ein guter Tag zum Sterben erschien 1987, nach Deinen ersten drei Romanen, der Nachfolger, Auf der Suche nach Natasha, 1990, nach zwei weiteren Romanen; heute, drei Romane und sechs Jahre später müßten genügend Sachen für eine weitere Sammlung in der Schublade liegen!

Madison Smartt Bell: "Tja, Deine Rechnung stimmt, aber ich habe höchstens genügend Material für ein halbes Buch, nicht mehr. Trotzdem ist da zur Zeit tatsächlich ein Buch mit Stories über musikalische Themen in der Mache, das dann ZIG-ZAG WANDERER heißen soll. Aber ich habe in letzter Zeit nicht mehr soviele Kurzgeschichten geschrieben wie früher, weiß also nicht, wann es dazu kommt. Eine Story zu schreiben ist anders als einen Roman, und es verlangt möglicherweise nach einer anderen Sorte Talent. Eine Story kann man mit einer einzigen Eingebung schreiben, ohne daß einen die Schwerstarbeit, die mit einem Roman verbunden ist, umhaut - das hat was für sich, hat sich bei mir in letzter Zeit aber einfach nicht so oft ergeben. Zum Teil wohl aus Zeitmangel - Ideen für Geschichten, an denen ich früher ein paar Tage gesessen hätte, kommen mir immer noch - aber irgendwie komme ich nicht dazu, sie zu schreiben..."

Matthias Penzel: Dein Web-site (mbell@goucher.edu) ist recht beeindruckend. Was hast Du zu modernen Technologien wie dem Internet zu sagen?

Madison Smartt Bell: "Ah ja, das Internet. Nicht leicht, die weitreichenden Folgen davon zu unterschätzen, schätze ich. Abgesehen von einigen Enttäuschungen und Überraschungen, die ganz selbstverständlich noch kommen werden. Ich denke aber, daß es zu einer wahrhaft fantastischen Informationsquelle werden wird, was es zum Teil ja schon ist... zur besten, die uns unsere Technologien bis heute bescheren konnten... bis unsere Zivilisation dem Beispiel von Mu und Atlantis folgt, was sie mit Sicherheit in nicht allzu weiter Ferne tun wird."

Matthias Penzel: Siehst Du es wie beispielsweise einige Cyberpunks als radikal demokratisches Mittel für aufstrebende Autoren, sich mitzuteilen?

Madison Smartt Bell: "Eins der schönen Dinge am Internet ist, daß es dort Zensur kaum geben kann, egal, wie sehr sich manche Deutschländer immer wieder daran versuchen. Wie Du weißt, greifen diese Maßnahmen nicht, denn im selben Moment, in dem die entsprechenden Autoritäten CompuServe dazu gebracht haben, 'Unreines' aus ihrem Programm zu entfernen, in dem haben andere gewiefte Net-Surfer Wege ausgetüftelt, durch die man an dieselben Inhalte kommt - was dann auf CompuServe newsgroups zu erfahren ist.

Auf der anderen Seite, Vor- oder Nachteil, kann man nicht umhin festzustellen, daß das Internet die weltweit größte Messe von Selbstverlegern ist, neben anderem. Diese Entwicklung sehe ich weder als gut noch als schlecht an. Mit den guten Sachen, die man finden kann, gibt es viel Mist und den wird es immer geben. Macht ja auch nix. Läßt sich nicht vermeiden, solange es Menschen gibt, die gewillt sind, das zu tippen. Und daß sich das nicht vermeiden läßt, ist letzten Endes vermutlich eine gute Sache.

Aber der Computer wie das Internet wird, glaube ich, niemals das gedruckte Buch ersetzen. Obwohl die Leichtigkeit, mit der man dort Informationen erhält, theoretisch weit überlegen ist, bleibt es in der Praxis doch unangenehm, auf einem Bildschirm mit Scroll usw. Texte zu lesen. Das gebundene, gedruckte Wort ist eine technologisch einwandfreie Erfindung, die zu ersetzen nicht einfach wird... solange es um mehr als ein paar geschriebene Seiten geht. Das Buch macht es den Augen einfacher, ist besser zu handhaben und leichter vollzukritzeln.

Sobald es jemandem gelingt, vernünftige Software zu entwickeln, mit der man Bücher drucken und binden kann, eins oder mehrere gleichzeitig - würde das das Verlagsgeschäft sicher von Grund auf revolutionieren... und vielleicht verbessern. Das halte ich für möglich."

© 1996-2004 Matthias Penzel, London, Berlin






Bücher neu und gebraucht
bei amazon.de

Suchbegriff:


eBay


Bücher gebraucht oder neu bei booklooker.de
Autor:
Titel:
neu
gebraucht

Ihr Kauf bei unseren Shop-Partnern sichert das Bestehen dieses Angebotes.

Danke.


Weitere Rezensionen in der Kategorie: Roman  



Partner-Shop: Amazon.de

Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview Amazon.de-Shop
Madison Smartt Bell: Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview

Partner-Shop: Amazon.com (USA)

Buy Madison Smartt Bell: Aufstand aller Seelen u.a. - ein Interview at Amazon.com (USA)

carpe librum ist ein Projekt von carpe.com  und © by Sabine und Oliver Gassner, 1998ff.

Das © der Texte liegt bei den Rezensenten.   -   Wir vermitteln Texte in ihrem Auftrag.   -   librum @ carpe.com

Impressum  --  Internet-Programmierung: Martin Hönninger, Karlsruhe  --  19.06.2012